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Wanda (live in Hamburg, 2015) © Falk Simon

Nie gab es so viele Besucher auf dem Hamburger Reeperbahn Festival: 34.000 wollten die mehr als 400 Konzerte sehen, die auch 2015 ganz im Zeichen der Newcomer standen. Zwischen finnischen Tortillas und charismatischen Wienern blieb immer noch Zeit für schrägen Glam-Rock aus LA und düsteren Indie-Pop aus Kapstadt.

Der junge Mann, der in Physiognomie und Frisur an den jungen Dave Grohl erinnert, muss kurz überlegen. "Ich hatte eine düstere Stadt erwartet. Kräne, der Hafen, viel Industrie – das war mein Bild von Hamburg." Tilen Prašnikar ist dann recht positiv überrascht worden vom bunten Treiben rund um die Reeperbahn.

Zehn Minuten vor dem Auftritt seiner Band Koala Voice im winzigen Karatekeller des Rockclubs Molotow hat der Bassist noch ganz kurz Zeit für ein Interview. Die vier von Koala Voice sind aus Slowenien angereist, aus einer Kleinstadt 40 Kilometer von der Hauptstadt Ljubljana entfernt, um beim ersten Showcase überhaupt anzureisen, dass sich beim Reeperbahn Festival ausschließlich Bands aus dem fünftkleinsten Land der EU widmet.

Vielversprechende Newcomer

400 Konzerte und mehr als 150 Konferenzen-Events an 70 verschiedenen Locations: das Festival, das seinen Schwerpunkt auf Indie, Folk, Rock und Elektronisches legt, feierte Zehnjähriges. 2006 kamen trotz einiger bekannter Namen nur 9000 Besucher, anno 2015 waren es fast vier Mal so viele. Und das, obwohl die Jubiläumsausgabe erneut ohne Headliner auskam. Einige wenige etablierte Acts wie Fünf Sterne Deluxe und James Morrison können nicht darüber hinwegtäuschen: hier orientiert man sich am texanischen South By Southwest und setzt auf Newcomer.

Zum Beispiel auf Fever The Ghost. Die vier Typen aus LA spielen im schönen Nochtspeicher, zwei Straßen von der Reeperbahn entfernt, noch am Vorabend des Releases ihres Debütalbums "Zirconium Meconium". Der Titel deutet es an, hier ist jemand auf MGMT-Gedächtnis-LSD-Trip. Der überbordende Psychedelic Pop des Quartetts geht gut ins Ohr, doch die Band zerstört ihre Melodien stets mit Tempowechseln und schrägen Keyboard-Sounds, bevor ein Song zu eingängig zu werden droht. Sie kleiden sich wie Glam-Rocker anno 1974: lange Locken fallen in die Gesichter, jeder trägt eine glitzernde Lederjacke und hat auf der Rückseite ein anderes, in der Dunkelheit leuchtendes Symbol aufgenäht. Wayne Coyne von den Flaming Lips ist ein Fan, natürlich.

Düster, kantig und schüchtern

Zum Beispiel auf Petite Noir. Auch Yannick Ilunga tritt in dem 160 Jahre alten Backsteinspeicher an der Bernhard-Nocht-Straße auf. Der 24jährige mit den kongolesischen und angolanischen Wurzeln spielte in Kapstadt in einer Metal-Band, als ihm Kanye West die Augen öffnete. Seitdem macht Ilunga zwar keinen HipHop, wohl aber etwas, was er "Noirwave" nennt: Afrobeat-inspirierte Shuffle-Grooves, vermischt mit düsterem Indiepop.

Was auf Petite Noirs gerade erschienenem Debüt "La Vie Est Belle/Life Is Beautiful" selbstbewusst und melodiös daherkommt, ist live etwas kantiger. Und schüchterner: Ilunga traut sich kaum, das Publikum anzuschauen, und leider ist seine beeindruckende Stimme zu leise abgemischt. Dennoch wünscht man sich, sein Song "Chess" mit den klingelnden U2-Gitarren wäre ein weltweiter Radiohit.

Neue Locations

Längst ist das Festival nicht mehr nur auf die Reeperbahn beschränkt. In diesem Jahr ist als neue Location das Hamburger Wahrzeichen überhaupt, die St. Michaelis Kirche, dazugekommen, wo unter anderen William Fitzsimmons auftritt. Am Mittwoch wurde das Klubhaus St. Pauli offiziell eingeweiht, dessen zerklüftete Fassade komplett mit LEDs beleuchtet ist und nachts einen Hauch von Times Square versprüht. Auf 5000 Quadratmetern sind hier gleich mehrere Spielstätten beheimatet.

Am Donnerstagnachmittag findet dort im neueröffneten Sommersalon ein Showcase finnischer Bands statt. Finnland ist in diesem Jahr offizieller Länderschwerpunkt des Festivals und hat gleich ein künftiges musikalisches Schwergewicht mitgebracht: den Rapper Noah Kin, der seine Tracks selbst produziert und als 21jähriger bereits drei Alben veröffentlicht hat. Er würde sich wohl gegen ein solches Etikett wehren, aber Kin hat das Zeug dazu, der skandinavische Kanye West zu werden.

Wem diese Beats für einen sonnigen Septembernachmittag etwas zu hart sind, der lässt sich auf dem Spielbudenplatz nebenan nieder: dort haben die Finnen ihre Food-Trucks aufgebaut, wo Rentier-Burger, Gin Tonic und Tortillas ungeahnte Welten nordischer Haute Cusine eröffnen.

Rock'n'Roll-Gesten im Überfluss

Wer beim Reeperbahn Festival dann doch nach einer Band sucht, von der schon im Vorfeld alle sprechen, wird bei Wanda fündig. Die fünf um Michael Marco Fitzthum verzückten schon letztes Jahr den gesamten deutschsprachigen Raum mit ihrem rotzigen Mix aus Austro-Pop und Indie-Rock. Das Molotow war schon im Februar viel zu klein, nun treten die Wiener in Hamburgs größtem Live-Club, dem Docks auf.

Rock'n'Roll-Gesten gibt es hier im Überfluss, laute Gitarren, Refrains zum Mitsingen, spritzendes Bier und einen Sänger, der mit Kippe im Mundwinkel und speckiger Lederjacke auf die Bühne kommt. Übrigens dieselbe, die er auf dem Plattencover von "Amore" trug. "Amore" ist auch ein Jahr nach Veröffentlichung des Debütalbums das Schlagwort des Abends, Fitzthum lässt es vom Publikum minutenlang in unterschiedlicher Betonung nachgrölen. Zwischendurch springt er zum Stagediven in die Menge, verteilt Zigaretten und umarmt in jeder zweiten Songpause voller Herzlichkeit seine Bandkollegen.

Musikalisch ist das wenig abwechslungsreich, doch in der Zugabe kann die Band die Ekstase noch einmal steigern: "Ans zwa drei vier" weitet sich zur langsam gesteigerten Hymne à la Patti Smiths "Gloria" aus. Wanda sind ein Quintett, doch das hier ist eine One-Man-Show: einen solchen Sänger, charismatisch bis zum Anschlag, sieht man selbst beim Reeperbahn Festival nur selten.

Fragwürdige Einlasspolitik

Mit 34.000 Besuchern kann das Festival 4000 mehr als im Vorjahr verzeichnen, und das ist auch zu spüren. Schlangen gibt es überall, selbst bei einer vermeintlich völlig unbekannten Band wie Findlay kann man sich glücklich schätzen, nach einer halben Stunde Wartezeit überhaupt hineinzukommen.

Die meisten Besucher nehmen es gelassen, frustrierend ist nur, dass zuweilen eine Knappheit suggeriert wird, die gar nicht besteht: kurz vor Beginn des Konzertes von Petite Noir im Nochtspeicher ist die Location nicht einmal halbvoll, trotzdem müssen draußen in der Kälte dutzende Interessierte bis zu 15 Minuten warten

Unbekannte Talente

Nicht unerwähnt sollen die Grandbrothers aus Düsseldorf bleiben, ein Duo, das seinem mit Stangen, Gurten und Kabeln gefesseltem Flügel im Resonanzraum des Musikbunkers Feldstraße neo-romantische Klänge entlockt. Die beiden Tontechniker Lukas Vogel und Erol Sarp verfallen mit ihrem zugänglichen Piano-Pop zuweilen in sachte Melancholie, die sie aber stets mit durch elektromechanische Hämmer erzeugten Beats brechen.

Ähnlich talentiert: der in Deutschland bisher weitgehend unbekannte Eli Paperboy Reed aus Boston, der mit Band im Mojo Club auftritt. Der 32jährige hat eine durchdringende Soulstimme, deren Power nicht selten an Sam Cooke erinnert, singt aber vor allem Blues-Songs. Dazu kommen ein Selbstbewusstsein und eine Bühnenpräsenz, die an Elvis Presley erinnert – ein grandioser Gitarrist ist Reed obendrein.

Am Ende steht der Anfang

Die vier von Koala Voice aus Slowenien haben es nach dem Interview mit nur knapper Verspätung auf die Bühne geschafft. Ihre Musik ist ein eingängiger Garagenrock, der seine Energie vom Punk der 70er Jahre und von den tanzbaren Beats englischer New-Wave-Bands zieht. Und der perfekt in den schnell überfüllten Keller des Molotow mit der niedrigen Decke passt.

Sängerin Manca Trampuš ist mit 19 Jahren mit Abstand die Jüngste in der Band, hat aber eine Stimme, die ihr schon mehrfach Vergleiche mit Patti Smith einbrachte. Sie habe mit dem Songschreiben angefangen, nachdem eine Freundin eine Gitarre bei ihr vergessen hatte, erzählt Trampuš nach dem Auftritt, während sie Autogramme schreibt. So einfach kann das manchmal beginnen mit dem Rock'n'Roll.

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