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Von 29 Sekunden bis anderthalb Stunden

Kampf um künstlerische Freiheit: Musiker gegen Streaming-Algorithmen

Spezial/Schwerpunkt von Olga Kirschenbaum
veröffentlicht am 01.03.2022

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Kampf um künstlerische Freiheit: Musiker gegen Streaming-Algorithmen

© Ben Collins via Unsplash

Meme-Songs produzieren, nach einem Schema komponieren, TikTok Star werden, Bots kaufen oder sich dem Druck des digitalen Streaming-Erfolgs entziehen? Welche Möglichkeiten gibt es für Kreative der Musikbranche, mit Streaming-Algorithmen umzugehen?

Ob durch Anpassung, Protest oder Gleichgültigkeit, ob kommerziell erfolgreiche oder aufstrebende Underground-Acts – praktizierende Musikschaffende müssen sich zu ihrem Stream-Count positionieren. Von Kreativität allein kann jedoch niemand leben. Ist künstlerische Freiheit also ein Luxus in der Musikszene?

Der erste Eindruck za(e)hlt

Die Fakten zuerst: Bei den meisten On-Demand-Diensten für Musik zählt ein Stream nach 30 Sekunden Listening-Zeit. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Wiedergabe abgebrochen wird, nimmt im Verlauf des Tracks zu. Die Auszahlung an die Artists erfolgt bei den meisten Anbietern aber nach der ermittelten Anzahl der Streams.

Für diejenigen, die finanziellen Erfolg auf Streaming-Plattformen anstreben, ist daraus also zweierlei zu schließen: Erstens, die ersten 30 Sekunden eines Songs müssen zum Weiterhören motivieren. Zweitens, eine beschränkte Song-Dauer und eine eingängige Refrain-Melodie sollten den Wiederspielwert des Songs steigern.

Schließt Kreativität Erfolg aus?

Infolgedessen passen Musiker und Musikerinnen die Songstruktur vermehrt an und stellen somit das wirtschaftlich ausgerichtete Handwerk gegebenenfalls vor die eigene Kreativität. So können Interessierte diverse Anleitungen für den effizientesten Aufbau eines Liedes online finden.

Ohnehin ist es eine bekannte Tatsache, dass Musikschaffende mit wenig Reichweite und alternative Musikgenres bei der Zusammenstellung von algorithmisch generierten Playlisten benachteiligt sind. Zusätzlich generieren frei gestaltete Kompositionen, die sich zum Beispiel langsam entwickeln, unter Umständen einen geringeren Stream-Count und somit weniger Einkommen für die Autorinnen.

Die ultimative Formel

Auffällig ist, dass zu den am häufigsten auf Spotify gestreamten Tracks vor allem Lieder von bekannten Songwriterinnen zählen, die eine in ihrer Intensität gesteigerte und ähnliche Form aufweisen:

Kein oder nur ein kurzes Intro, der Chorus direkt am Anfang, Ohrwurm-Potenzial schon vor der 15. Sekunde. Erst danach, aber noch vor der 30 Sekunden-Marke beginnt eine kurze Strophe. Mehrfaches Wiederholen der Hook ist obligatorisch. Es gibt kein Outro und die Gesamtspielzeit liegt unter 3 Minuten.

Nach diesem Schema zu komponieren, entspricht beinahe der Produktion sogenannter Meme-Songs, die sich durch einen (einzigen) eingängigen musikalischen Einfall und die repetitive Song-Struktur auszeichnen. Ihr Wert besteht für die Artists explizit in ihrem Potenzial, durch Verwendung in kurzen TikTok-Videos viral zu gehen. Der kommerzielle Zweck heiligt hier also die kreativen Mittel.

31 Sekunden Stille

Gegen solchen indirekten Zwang zur Musik-Optimierung regt sich allerdings immer wieder auch Protest. Zum Beispiel veröffentlichte 2016 das Label analougsoul ein Album mit dem Titel #31s, das Beiträge verschiedener Künstler in einer Länge von eben jeweils 31 Sekunden enthielt. Diese Aktion sollte auf die langfristige Wirkung der Streaming-Dienste auf die Musikkomposition aufmerksam zu machen. 

Einen radikaleren Weg wählte die amerikanische Funk-Band Vulfpeck, die 2014 das Album "Sleepify" auf der beinahe gleichnamigen Streaming-Plattform Spotify hochlud. Da auf den zehn 31-32 Sekunden langen Tracks weder musikalische noch irgendwelche anderen Töne zu hören waren, konnten Fans das Album beim Schlafen auf Dauerschleife abspielen. Auf diese Weise konnten sie eine hohe Anzahl von Streams und eine entsprechende Auszahlung für die Band generieren.

29 Sekunden Musik

Doch nicht jeder Protest gegen die Streaming-Algorithmen zielt darauf ab, deren Sinnlosigkeit mittels eines schnellen Profits aufzuzeigen. Valentin Hansen machte das Gegenteil, indem er sein Album "Crisis - The Worthless Album" veröffentlichte. Das Album ist deshalb "wertlos", weil die acht publizierten Songs auf insgesamt 30 Tracks mit einer Dauer von jeweils 29 Sekunden aufgeteilt sind.

Folglich können können die einzelnen Tracks aufgrund der kurzen Spielzeit beispielsweise weder auf YouTube noch auf Spotify monetarisiert werden. Dadurch wird das Album der Berliner Künstler wiederum finanziell "wertlos". "Das war jetzt der einzige Weg, mich dem (System) zu entziehen", erklärte Hansen seine Entscheidung in einem Interview.

In Erinnerung an die Langspielplatten

Auch das entgegengesetzte Vorgehen ermöglicht es, ein Zeichen gegen den Zwang zur Konformität zu setzen. So behalten es sich Rock- und Metalbands wie Bell Witch und Sleep beispielsweise vor, einen komplette CD mit einem einzigen, extrem langen, Track zu füllen. Dadurch stellen die Artists sicher, spezielle musikalische Beschaffenheiten ihres Werks herausstellen oder künstlerische Gedanken uneingeschränkt zum Ausdruck bringen zu können.

Der Preis für die hohe Songdauer sind notwendigerweise niedrige Streaming-Zahlen: Selbst wenn ein einzelnes Lied in seiner Länge der Gesamtspielzeit eines ganzen Albums mit einer zweistelligen Track-Anzahl gleicht, zählt es nur als ein Stream.

Je mehr desto besser

Im Gegensatz dazu schlagen bereits etablierte Stars wie Taylor Swift aus ungewöhnlichen kreativen Entscheidungen sogar Profit. Mit "All To Well (Taylor’s Version)" präsentierte die Sängerin 2021 ein über 10 Minuten langes Lied. Darüber hinaus ist dieses Lied schon einmal in einer kürzeren Fassung auf ihrem 2012 erschienenen Album "Red" erschienen (damals bereits als längster Track mit einer überdurchschnittlichen Dauer von 5:29 min).

Dabei reagierte Swift mit dem Release der langen Version auf die Nachfrage ihrer Fans, die nun die lang ersehnte Originalfassung auf Repeat hören – mit entsprechenden Auswirkungen auf den kommerziellen Erfolg der Single

Viel Arbeit und wenig Geld

Jedoch können es sich nur Musikschaffende, deren Einkommen und Reichweite ohnehin kaum davon abhängen, leisten, Streaming-Algorithmen zu ignorieren. Andere haben höchstens die Möglichkeit, diese zu ihrem Vorteil zu nutzen.

Dagegen sind weniger normkonforme oder bislang unbekannte Solo-Künstlerinnen und Musik-Kollektive zusätzlich zu den On-Demand-Angeboten auf den Verkauf von Tonträgern und Merchandise-Produkten, auf Live-Auftritte und andere Projekte angewiesen. Leider liegt es daher auch nahe, dass die Selbstfinanzierung in solchen Fällen während der Pandemie noch schwieriger ist.

Zugleich waren in den vergangenen anderthalb Jahren Headlines mit den überwältigenden Einnahmen verschiedener Streaming-Dienste zu lesen. Zum Beispiel lag der Jahresumsatz von Spotify 2020 bei 7,88 Milliarden Euro. Währenddessen erhält der Rapper Juse Ju in einem Monat auf derselben Plattform für insgesamt 500.000 Streams im "Wert" von 0,3 Cent lediglich 1.500 Euro, die er direkt wieder in die Produktion eines neuen Songs investiert. 

Für aufstrebende Artists

Wer solche Streaming-Zahlen überhaupt erreichen möchte, kommt kaum umhin, dem Erfolgsrezept der Top-Artists auf den üblichen Plattformen sowie diversen Ratgebern zu folgen. "Sei einfach du selbst" ist in diesem Zusammenhang daher wohl eher nicht der passende Ratschlag, doch auch so ein Weg in die User-Playlisten ist nicht für jede und jeden der richtige. 

Protestaktionen können ebenfalls Aufmerksamkeit erregen und die Fan-Treue stärken. Schließlich sind eine gute Fanbase und konstante Online-Präsenz in jedem Fall wichtig. Anders als früher können über den Aufstieg (oder den Fall) ihrer (oder anderer) Idole bestimmen. Beispiele sind junge Musicfluencer wie Jacob Whitesides und organisierte Fanclubs wie die BTS Army.  

Nicht zuletzt existiert ein weniger präsenter, aber solider und stabiler Markt außerhalb der neusten Social Media Plattformen, für den Musikgrößen wie Adele nach wie vor Musik machen (werden). In diesem Bereich sind Geduld und Durchhaltevermögen vermutlich noch mehr vonnöten als bei dem von Broadcast-Yourself-Plattformen geschaffenen Traum vom Erfolg über Nacht.

Für Musik- und Fairtrade-Fans

Hinsichtlich der finanziellen Bedingungen für registrierte und auf Streaming-Plattformen veröffentlichte Künstlerinnen stellt das User Centric Payment System Besserungen in Aussicht, von denen vor allem Independent Artists, Newcomer und Nischen-Genres profitieren würden. Nicht mehr als ein Anfang, aber immerhin könnten Fans weniger verbreiteter Genres ihre Lieblingsmusik direkt fördern.

Selbstverständlich gibt es für Musikbegeisterte auf beiden Seiten der Produktionskette immer auch eine einfache Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen, ohne Streaming-Bots und Manipulations-Tools einzusetzen. Dafür müssen sie sich nur darum bemühen, allen Artists mindestens 31 Sekunden ihrer Zeit zu schenken.

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