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Die fetten Jahre sind vorbei

Reeperbahn Festival 2022: Die Livebranche steht vor einer massiven Marktbereinigung

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 23.09.2022

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Reeperbahn Festival 2022: Die Livebranche steht vor einer massiven Marktbereinigung

Das Panel "Der deutsche Patient" diskutierte auf dem Reeperbahnfestival die aktuelle Lage der Livebranche. © Daniel Nagel

Die schwierige Lage der Veranstaltungsbranche zählt zu den zentralen Themen des Reeperbahn Festivals 2022. Dabei sind sich alle einig: Der Branche stehen einschneidende Veränderungen bevor. Statt Wachstum bereitet sie sich auf einen Schrumpfungsprozess vor.

Der Festivalsommer sei gut gewesen, befindet Axel Ballreich, Vorsitzender der LiveKomm und Mitinhaber des Conzertbüros Franken. Aber die Aussicht auf den Herbst 2022 und das Jahr 2023 beunruhigt nicht nur ihn.

Viele Sprecherinnen und Sprecher auf dem Reeperbahn Festival haben sich mit einer nicht mehr aufzuhaltenden Konsolidierung der Live-Branche bereits abgefunden. Ballreich rechnet mit dem Verschwinden von 20 Prozent der Veranstalter, Festivals und Clubs in den nächsten 2-3 Jahren. Das sei auch mit Fördermitteln nicht zu verhindern.

Ende einer langen Wachstumsphase

Nach jahrzehntelangem Wachstum müsse sich die Branche darauf einstellen, "kleinere Brötchen zu backen", findet auch Alex Richter, 22 Jahre lang Geschäftsführer von Four Artists, der jetzt seine eigene Firma A&R Entertainment betreibt. Er rät dazu, den Rückgang mit "Demut" entgegenzunehmen. 

Der größte Fehler der Branche wäre es laut Richter, als Reaktion auf die zurückhaltenden Ticketverkäufe für 2023 mehr Konzerte und Festivals zu gleichzeitig höheren Preisen zu planen, um den Umsatzrückgang mit aller Macht auszugleichen.

Toxische Mischung

Richter befürwortet stattdessen die Strategie von Dieter Semmelmann von Semmel Concerts, der erklärt, das zu CTS Eventim gehörende Unternehmen plane für das erste Halbjahr 2023 mit 50 Prozent weniger Konzerten als im Jahr 2019. 

Semmelmann rechnet auch damit, dass sich die Rekordgewinne oder Rekordverkaufszahlen von Eventim oder Live Nation/Ticketmaster 2023 relativieren, da weniger Veranstaltungen stattfinden. Semmelmann erklärt, sein Hauptbestreben bestünde daher darin, das Überleben seines Unternehmens mit 150 Mitarbeitern zu sichern. 

Die Branche sei mit einer "toxischen Mischung" aus Kaufzurückhaltung bei Konzertkarten, Fachkräftemangel und steigenden Energiepreisen konfrontiert, die dazu führe, dass insbesondere die großen Unternehmen mit sich selbst beschäftigt seien: Sie versuchten, irgendwie durch die Krise zu kommen.

Erschwerte Planbarkeit

Das hat viele Gründe: Die seriöse Planung von Konzerten und Tourneen stellt sich weitaus schwieriger dar als vor Corona. Einigermaßen verlässliche Vorverkaufszyklen existierten nicht mehr: Fans und Besucher entscheiden kurzfristiger, was die Planbarkeit beeinträchtigt und Bands zur Absage oder Verschiebung von Konzerten zwingt, so Hendrik Seipel-Rotter vom Schlachthof Wiesbaden.

Es gäbe auch immer wieder Beispiele von Konzerten, die sich hervorragend verkauften, aber wenn sie sich schlecht verkauften, dann häufig ganz besonders schlecht. Ein klares Muster ließe sich nicht erkennen. Aus diesem Grund sei es aktuell sehr schwierig, im Hinblick auf 2023 die unternehmerisch richtige Entscheidung zu treffen.

Hot or not

Besonders gut liefen hauptsächlich Konzerte für junges Publikum, insbesondere aus dem Hip-Hop-Bereich, besonders schlecht Shows für die mittlere Zielgruppe zwischen 30 und 60, so berichten Ballreich und Semmelmann übereinstimmend. 

Internationale Acts hätten es zudem etwas leichter als deutsche Künstler, wo ein gewisses Überangebot herrsche. Besonders schwierig sei die Lage bei Clubshows bis 1000 Zuschauern, die sich aufgrund des starken Anstiegs der Energiepreise aktuell kaum gewinnbringend durchführen ließen.

Schwere Zeiten für Newcomer

Ähnliches berichtet auch Pamela Schobeß, Inhaberin des Berliner Clubs Gretchen und Vorsitzende der Clubcommission Berlin. Ihr Geschäftsmodell, mit ausverkauften Shows bekannterer Künstler Konzerte von Newcomer-Künstlern oder "nieschigen Artists" zu finanzieren, funktioniere nicht mehr.

Ohne die Möglichkeit, sich auf kleinen Bühnen auszuprobieren und zu beweisen, brächen für den im Hinblick auf die Talentförderung so wichtigen Newcomerbereich schwierige Zeiten an, so erklären die meisten Branchenvertreter übereinstimmend. 

Angst vor dem Corona-Winter

Als wären das nicht schon genug Probleme, droht bei einer Verschärfung der Corona-Lage im Herbst und Winter 2022/23 ein weiterer Winter mit einem eingeschränkten Veranstaltungsbetrieb. Viele Branchenvertreter sind der Auffassung, dass die Veranstaltungswirtschaft diesen nicht unbeschadet überstehen würde.

Carsten Will von der Interessengemeinschaft Veranstaltungswirtschaft befürchtet, dass die nach Corona verbliebenen Veranstaltungstechniker endgültig den Mut verlieren und sich beruflich neu orientieren könnten, wenn ein normaler Veranstaltungsbetrieb im Herbst nicht möglich sei. 

Viele Fragezeichen

Ob die Live-Branche im Herbst und Winter 2022/23 einigermaßen normal zu arbeiten vermag, so dass ein beträchtlicher Teil der mehrfach verschobenen Konzerte endlich nachgeholt werden kann oder ob umfassende Veranstaltungsabsagen und Verschiebungen dazu führen, dass unersetzliche Mitarbeiter verloren gehen und zahlreiche private Veranstalter und Dienstleister für immer verschwinden, lässt sich nicht seriös vorhersagen.

Falls letzteres Szenario eintrifft, wären die Solo-Selbstständigen, Ein-Mann-Veranstalter sowie die kleinen und mittleren Clubs und Festivals besonders betroffen. Profitieren würden hingegen die großen, multinationalen Unternehmen wie Livenation/Ticketmaster oder Eventim, deren Marktmacht auch jetzt schon stetig wächst.

Tendenz zur Marktkonzentration

Die Tendenz zur Konzentration der Branche in großen multinationalen Konzernen beunruhigt Dieter Semmelmann nicht sehr. Er setzt darauf, dass junge Veranstalter mit “pfiffigen Ideen” wieder an Boden gewinnen und die Marktmacht großer Unternehmen erfolgreich angreifen würden.

Auf staatliche Hilfen darf die Szene höchstens in Hinblick auf die gestiegenen Energiepreise hoffen. Eine generelle Unterstützung der Veranstaltungsbranche ist, so die Aussage von Politikern auf dem Reeperbahnfestival, nicht zu erwarten. 

Strukturelle Unterstützung vonnöten

Das verwundert vor allem deshalb, weil im Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen noch nicht vergebene Mittel von mindestens 1,5 Milliarden Euro vorhanden sind, die der Branche zugutekommen können. Die Branchenvertreter appellieren daher an die Ampel-Koalition, diese Mittel nicht verfallen zu lassen. 

Die aktuelle Krise sei einfach zu schwerwiegend, um sie alleine zu bewältigen, Jahrzehntelang seien Veranstalter und Clubbetreiber stolz gewesen, alles selbst aufgebaut zu haben, aber das sei vorbei: "Alleine schaffen geht nicht mehr".

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