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Hartz-IV oder Existenzgeld?

Warum gibt der Bund vorhandene Geldmittel nicht für solo-selbständige Kulturschaffende frei?

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 21.07.2020

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Warum gibt der Bund vorhandene Geldmittel nicht für solo-selbständige Kulturschaffende frei?

Geld ist im Überfluss vorhanden, aber viele Solo-Selbstständige gehen dennoch leer aus. © pexels.com

Mit 50 Milliarden Euro wollte die Bundesregierung Solo-Selbständigen und Freiberuflern in der Coronakrise helfen. Wie sich aus einer Anfrage der Grünen ergibt, ist davon aber nur ein kleiner Teil ausbezahlt worden. Gleichzeitig verweist die Bundesregierung die Betroffenen auf ALG II ("Hartz IV"). Was läuft da schief?

Die Kritik am Umgang der Bundesregierung mit vornehmlich im Kultur- und Veranstaltungsbereich tätigen Soloselbständigen und Freiberuflern in der Coronakrise lässt nicht nach.

Die Ende März aufgelegte Soforthilfe für Soloselbständige und Kleinstbetriebe in Höhe von 50 Milliarden Euro sollte nach offizieller Definition "die wirtschaftlichen Existenz der Antragsteller" sichern. Dieses Ziel wurde aber schon deshalb verfehlt, weil ein Großteil der Hilfen die Betroffenen nicht erreichte.

34,5 Milliarden Euro nicht abgerufen

Eine Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt, die Backstage PRO vorliegt, ergab, dass Ende Juni 2020 von diesen 50 Milliarden nur 13,5 Milliarden an 1,75 Millionen Antragsteller ausbezahlt waren. 

Göring-Eckardt forderte daher in einem Interview mit der BILD am Sonntag, “die bisherigen Hilfsgelder unbürokratisch auch für den Lebensunterhalt freizugeben. Wir brauchen ein bundesweites Existenzgeld für Selbstständige in Not von monatlich rund 1200 Euro.”

An der Realität vorbei geplant

Warum aber ist der Großteil der 50 Milliarden Euro noch vorhanden?

Der Grund besteht darin, dass das Hilfsprogramm die berufliche und finanzielle Realität der Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt. Die Corona-Soforthilfe darf nämlich nur für “laufende Betriebskosten” eingesetzt werden, aber nicht zur Deckung des Lebensunterhalts. Viele Soloselbständige und Freiberufler haben aber keine oder nur geringe Betriebskosten.

Zur Deckung des Lebensunterhalts verweist die Bundesregierung Soloselbständige und Freiberufler auf den erleichterten Zugang zum ALG II. Dabei handelt es sich allerdings um einen extrem bürokratischen Vorgang, der keineswegs so reibungslos abläuft, wie die Bundesregierung glauben machen will und gleichzeitig die Betroffenen vor eine Reihe von Problemen stellt, die wir in diesem Artikel näher behandelt haben.

Enttäuschte Hoffnungen

Zwischenzeitlich sah es so aus, als würde die Bundesregierung gegensteuern. Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) kündigte im Juni ein neues Programm für Soloselbständige und Freiberufler an, das sich am Umsatzausfall orientieren sollte. 

Wenige Tage später war davon aber keine Rede mehr. Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien (CDU), verwies die Betroffenen hingegen erneut auf ALG II – und löste damit einen Sturm der Entrüstung bei Betroffenen aus, die sich aus verständlichen Gründen von der Politik alleine gelassen fühlen.

Minister gegen Minister

In einem Facebook-Post vom 2. Juli wird klar, worin das Problem besteht. Offensichtlich konnten sich Grütters und Braun nicht gegen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) durchsetzen, die entsprechende Hilfen ablehnen. 

Der Post enthält Aussagen aus einem Interview, das Grütters dem ZDF Morgenmagazin gab. Darin erklärt sie (mündlich):

"Es gab einen großen Antrag, den habe auch ich mit unterschrieben, von den Koalitionsfraktionen an den Bundeswirtschafts- und den Bundesfinanzminister, sie möchten bitte für diese Gruppe an Soloselbständigen, die keine klassischen Betriebskosten hatten, eine Förderstrecke einrichten. Das ist nicht passiert. BKM allein, also die Kulturbeauftragte, kann darauf nicht reagieren. Wir können keine Bedarfsprüfung, z.B. für soziale Lebensumstände, machen. Das müssen die Jobcenter tun. Wir haben auch keine Gewerberegister hier, also wer ist tatsächlich gewerblich gemeldet. Deshalb machen das der Wirtschaftsminister und die Länder. Diese Strecke fehlt in der Tat, das sehe ich auch."

Monika Grütters ist sich also sehr wohl bewusst, dass die bisherigen Hilfsprogramme um eine "Förderstrecke" für Soloselbständige ergänzt werden müssten.

Kultur ist Ländersache, Hilfe auch

Grütters unterstützt auch entsprechende Forderungen, konnte sich aber gegen die mächtigen Finanz- und Wirtschaftsministerien nicht durchsetzen und verteidigt – entgegen ihrer eigentlichen Auffassung – den erleichterten Zugang zum ALG II als "sehr faires Angebot".

Es ist leicht, Monika Grütters persönliches Versagen vorzuwerfen, die Realität ist aber komplizierter. Kunst und Kultur sind im föderalen System der Bundesrepublik grundsätzlich Sache der Länder. Diese haben auch in unterschiedlichem Umfang Hilfsprogramme für Kulturschaffende aufgelegt. Allerdings richten diese sich meistens an Künstler, aber nicht an andere Selbstständige, die beispielsweise in der Veranstaltungsbranche tätig sind.

Zuständigkeiten verhindern Lösungen

Aus der Zuständigkeit der Länder für Kultur folgt, dass Bundesfinanz- und Bundeswirtschaftsministerium mit der Problematik der in diesen Branchen tätigen Soloselbständigen und Freiberufler wenig anfangen können, da sie bisher dafür nicht zuständig waren. Viel Erfahrung verfügen sie hingegen im Umgang mit der Auto- oder Luftfahrtindustrie, aber auch diese Branchen erhielten in den vergangenen Monaten keineswegs alles das, was sie gefordert hatten.

Es ist Politikern oder Ministerialbeamten nicht zu verübeln, dass sie sehr stark in Zuständigkeiten denken, denn nur so sind sie in der Lage, ihren komplexen Beruf auszuüben. Allerdings fordern selbst die im Bundesrat vertretenen Landesregierungen den Bund auf, bezüglich der Hilfen für Kulturschaffende eine aktivere Rolle zu spielen. Auch wenn dabei finanzielle Interessen fraglos eine Rolle spielen: Der Bund sollte das Problem nicht länger ignorieren.

Handeln dringend erforderlich

Das gilt insbesondere deshalb, weil nicht weniger als 34,5 Milliarden Euro an vom Bundestag bewilligten Geldern vorhanden sind, um die soloselbständigen und freiberuflich Kulturschaffenden des Landes vor dem Ruin zu retten. 

Sicher: Es gibt auch in anderen Branchen Soloselbständige und Freiberufler mit geringen Betriebskosten, aber insgesamt sind es doch die Kulturschaffenden, die unter der Coronakrise besonders leiden, egal ob sie im eigentlichen Sinn kreativ arbeiten oder erst als Tontechniker, Beleuchter, Bühnenbauer dafür sorgen, dass die Kreativen auftreten können.

In diesem Sinn äußert sich auch Karin Göring-Eckardt: "Wer faktisch ein Auftrittsverbot hat und seine Lebensgrundlage verliert, braucht Sicherheit, nicht nur für ein paar Wochen, sondern für ein Jahr. Wir müssen Kunst und Kultur retten!"

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