Keine triumphale Rückkehr
Festivalsabsagen wegen stockender Ticketverkäufe und steigenden Produktionsausgaben
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© Bárbara Oliveira via Pexels
Für viele Musikfans bedeutet der Sommer 2022 laut einem Artikel des Guardian eine Rückkehr in die vorpandemische Zeit; rauschende Partys inmitten von Menschenmassen, ohne Abstandsregelungen oder Maskenpflicht.
Es verwundert wenig, dass viele Menschen diese Möglichkeiten wahrnehmen, weshalb größere Festivals wie das traditionsreiche Glastonbury, Reading oder Leeds bereits seit längerem ausverkauft sind.
Zu hohes Risiko
Doch weist der Guardian in seinem Artikel darauf hin, dass die ausverkauften Großfestivals auch eine negative Seite haben: In deren Schatten gibt es zahlreiche kleinere Festivals, deren Veranstalterinnen und Veranstalter aus verschiedenen Gründen kaum Karten verkaufen – und ihre Festivals daher im schlimmsten Fall ganz absagen müssen.
Veranstaltungen wie "This Is Tomorrow" in Newcastle, "Brainchild" in Bentley, East Sussex, und das "Summer Fest" in Ewood Park, Blackburn wurden bereits abgesagt. Die Veranstaltenden gaben an, dass das Risiko einer Durchführung im Hinblick auf die geringen Vorverkaufszahlen zu hoch gewesen sei. Marina Blake, Kreativdirektorin des Brainchild-Festivals, stellt gegenüber dem Guardian fest:
"Wir sind normalerweise ausverkauft, aber als wir im Dezember in den Verkauf gingen, wussten wir, dass etwas nicht stimmte. Der Vorverkauf lief schleppend, es gab keine Nachfrage."
Überall steigende Kosten
Einer der Hauptgründe für die schleppende Nachfrage sind laut Blake die gestiegenen Ticketkosten: Mit den aktuell explodierenden Lebenserhaltungskosten seien viele Menschen nicht in der Lage, sich die inzwischen ebenso im Preis gestiegenen Tickets zu kaufen.
Doch sind die Preiserhöhungen für die Veranstalterinnen und Veranstalter laut Mariana Blacke gleichsam unumgänglich: Die gebuchten Künstlerinnen und Künstler würden höhere Honorare aufrufen, um die Verluste während der Pandemie auszugleichen, die Produktionskosten für Festivals und Live-Events seien gestiegen, und auch der Transport sei aufgrund gestiegene Benzinkosten teuerer geworden. Ein Sprecher des ebenfalls abgesagten "Summer Fest" fasst zusammen:
"Die Infrastrukturkosten sind gestiegen, viele Facharbeiter haben die Branche während der Pandemie verlassen und jetzt müssen sich die Zuschauer mit der Lebenshaltungskostenkrise auseinandersetzen. Es ist extrem herausfordernd da draußen. Dies ist sicherlich kein Jahr der Erholung für Festivals."
Nicht nur im Königreich
Das Problem der abgesagten Festivals plagt dabei nicht allein das Vereinigte Königreich. Auch in Deutschland häufen sich die Event-Absagen: So mussten etwa das D-Town Distortion Open Air mit Bands wie ZSK, Terror und Sepultura und das Thunder Dance Festival in Bietigheim-Bissingen wegen zu geringer Vorverkaufszahlen abgesagt werden.
Ein gleiches Schicksal ereilte auch die beiden Rock- und Metal-Festivals Bang Your Head und Rock of Ages. Die Gründe sind hier wie da die gleichen: Steigende Inflation, steigende Lebenskosten, steigende Betriebskosten, aber auch Personal- und Fachkräftemangel erschweren gerade kleinere Festivals die Durchführung.
Ebenfalls problematisch ist in dieser Hinsicht auch, dass nachgeholte Festivals inzwischen mit weitaus höheren Kosten operieren müssen, als sich dies in der Preisgestaltung von vor einem oder zwei Jahren zeigt: Die Ticketpreise von vor der Pandemie tragen den gestiegenen Kosten schlicht nicht Rechnung, sodass nachgeholte Festivals für viele Veranstaltende ein Verlustgeschäft sind.
Ernstzunehmender Mangel
Der Fachkräftemangel ist ein wirklich gravierendes Problem in der Branche. Die Auswirkungen des Mangels zeigten sich deutlich bei dem nach nur einem Tag abgesagten Puls Open Air, das eigentlich vom 9. bis 11. Juni im Schloss Kaltenberg bei München stattfinden sollte.
Der Grund für die Absage: Der vom Veranstalter beauftragte Ordnungsdienst konnte nicht die vereinbarte Anzahl an Ordnungskräften und Securities stellen:
So überraschend der Personalmangel sicherlich für das Publikum war; Branchen-Insider rechnen bereits seit längerem mit derartigen Vorfällen – das während der Pandemie aufgrund fehlender Einnahmen abgewanderte Personal ist schlicht in andere Berufe abgewandert und nicht zurückgekehrt.
Engpass
Noch nicht nur das Personal ist knapp, auch hinsichtlich des bei Open-Air-Veranstaltungen benötigten Equipments gibt es Engpässe. Die Veranstaltenden des Stuttgarter Kulturfestivals Artländ gaben beispielsweise an, dass sie u.a. nicht in der Lage waren, Toilettenwagen zu bezahlbaren Preisen zu finden.
Diese Realität dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass derzeit zahlreiche Open-Air-Veranstaltungen gleichzeitig stattfinden – sowohl solche, die erst in diesem Jahr angesetzt wurden als auch solche, die ursprünglich bereits während der Pandemie hätten stattfinden sollen.
Überangebot
Das derzeitige Überangebot an Veranstaltungen bringt dabei nicht nur handfeste Versorgungsprobleme mit sich, sondern dürfte auch ein weiterer Grund dafür sein, dass weltweit kleinere Festivals abgesagt werden – denn die Zahl der parallel stattfindenden Events dürfte derzeit einfach zu groß sein.
Auch der Guardian schreibt, dass der Markt gesättigt ist: Derzeit sei das Angebot größer als die Nachfrage nach Live-Musik. Nick Checketts, ein Promoter aus Edinburgh, stellt auch in Schottland fest, dass die Auswahl einfach zu groß sei. Viele würden sich daher wenn überhaupt spontan für einen Festivalbesuch entscheiden – was den Veranstaltenden, die im Voraus planen müssen, natürlich nicht hilft.
Geplagt von dauerndem Ausfall
Schlussendlich bleibt Covid – trotz der temporären Entspannung der Pandemielage – ein für Festival-Veranstalterinnen und -Veranstalter ein nicht geringes Problem. Die Festivals, die entgegen der Widrigkeiten aktuell überhaupt durchgeführt werden können, müssen ständig mit dem Ausfall von gebuchten Künstlerinnen und Künstlern rechnen.
So sah sich beispielsweise das Freak Valley Festival damit konfrontiert, dass der Donnerstags-Headliner Witchcraft kurz vor Beginn des Festivals absagen musste. Ersatz war mit der Psychedelic-Band My Sleeping Karma schnell gefunden – bis diese aus gesundheitlichen Gründen ebenfalls absagen mussten.
Wenngleich es auch unbedingt positiv zu bewerten ist, dass Festivals überhaupt wieder ohne größere Einschränkungen stattfinden können, so sind die Hürden, mit denen Veranstaltende aktuell zu kämpfen haben, doch immens. Es bleibt zu hoffen, dass die zahlreichen Widrigkeiten nicht zu einem Festival-Sterben führen.
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