Dringender Handlungsbedarf
Studie zeigt extreme psychische Auswirkungen der Corona-Pandemie auf freiberufliche Musiker/innen
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Burnout vermeiden. © joseasreyes / 123RF
Im August 2021 hatten wir euch aufgerufen, an der Umfrage von Musiker und Musikpädagoge Dirk Rosenbaum teilzunehmen, deren Ergebnisse inzwischen vorliegen.
Rosenbaum studiert Psychologie an der Privaten Hochschule Göttingen und hat sich zum Ziel gesetzt, in seiner Bachelorarbeit die psychischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bzw. der Maßnahmen zu deren Bekämpfung auf freiberufliche Berufsmusiker/innen zu erforschen.
Erhebliche Belastungen
Rosenbaum stellt in der Auswertung der Umfrage fest, dass sich freiberufliche Berufsmusikerinnen und -musiker seit dem ersten pandemiebedingten Lockdown im März 2020 erheblichen Belastungen ausgesetzt sahen. Seine Studie legt daher nah, dass Berufsmusiker/innen dringend spezifisch angepasste Hilfsangebote benötigen.
Aufgrund ihrer speziellen Arbeitsbedingungen galten Berufsmusiker/innen schon vor der Pandemie als Hochrisikogruppe in Bezug auf psychische Erkankungen. Rosenbaum plädiert daher auch für politische und gesellschaftliche Maßnahmen, um die öffentliche Wertschätzung von Musik zu erhöhen und die Ressourcen der Musiker in Krisensituationen zu stärken.
Methodik und Befragte
An der zugrundliegenden Umfrage beteiligten sich im Juli und August 2021 deutschlandweit 209 Teilnehmende. Die Antworten wurden mit Hilfe eines Online-Fragebogens erfasst, der einen Test zur Messung psychischer Symptome und Fragen zu psychischen Grundbedürfnissen enthielt.
Die Ergebnisse wurden durch diverse statistische Verfahren und durch Vergleiche mit verschiedenen Stichprobengruppen, die vor und während der Pandemie erhoben wurden, ausgewertet.
Besorgniserregende Befunde
Der besorgniserregenste Befund der Umfrage ist wohl, dass die Antworten der teilnehmenden Musikerinnen und Musiker durchweg höhere psychische Belastungen im Vergleich zur Referenzgruppe der Allgemeinbevölkerung indizierten.
So berichten 28,7% der Musiker/innen über mittlere und 17,7% über schwere Depressionssymptome während der Pandemie. Insgesamt leiden also fast 50% aller freiberuflichen Musiker an Depressionen.
In der Allgemeinbevölkerung liegt die Häufigkeit von mittleren Depressionssyptomen bei 13,7%, die der schweren Symptome bei 4,8% und damit deutlich niedriger. Vor der Pandemie litten in der Allgemeinbevölkerung lediglich 4,8% an mittleren und 1,1% an schweren Depressionssymptomen.
Somatische Auswirkungen
Das Risiko an einer Angststörung zu leiden ist bei der Gruppe der Musikerinnen und Musiker ebenfalls deutlich erhöht: Während in der Allgemeinbevölkerung in der Pandemie 7,4 Prozent an Angststörungen in mittlerer und 3,2% in schwerer Ausprägung leiden, betragen die Werte bei den befragten Musikern 17,2% (mittlere Symptomatik) und 6,7% (schwere Symptomatik).
Musikerinnen und Musiker haben laut den Ergebnissen der Studie außerdem eine erhöhte Anfälligkeit für Ess- oder Zwangsstörungen sowie für somatoformen Störungen, also körperliche Beschwerden ohne klare organische Ursache.
Schwierige Berufslage
Diese erhöhte Krankheitshäufigkeit wird laut der Studie bedingt durch die einzigartigen Arbeitsbelastungen und -herausforderungen der Berufsgruppe der freiberuflichen Musikerinnen und Musiker. Der intensive Wettbewerb in der Musikindustrie und die durch die Pandemie verursachten Einkommensverluste in Deutschland führten zu einer künftig noch größeren Konkurrenzsituation inklusive Lohndumping und steigender Berufsunsicherheit.
Zusätzlich sei es in der Pandemie beim größten Teil der Berufsmusikerinnen und -musiker zu einem als massiv wahrgenommenen Wertverlust der Musik gekommen. Insbesondere beklagen die Befragten, dass die Musik in der sozialen Wahrnehmung von Politik und Gesellschaft als nicht systemrelevant, sondern als "Freizeitvergnügen" abgewertet wurde. In Wiedereröffnungsdebatten rangierten Musikclubs auf einer Ebene mit "Bordellen und Bier".
All dies führt zu einer Situation, die von vielen Musikern und Musikerinnen als psychisch sehr belastend empfunden wird und sich in den besorgniserregenden Werten der Umfrage widerspiegelt.
Problematisches Hilfesuche-Verhalten
Die Studie von Dirk Rosenbaum untersuchte gleichsam das Hilfesuche-Verhalten von freiberuflichen Musikschaffenden – also die Tendenz, bei Bedarf ein passendes psychologisches Hilfsangebot wie Beratung oder Therapie anzunehmen.
Es zeigt sich, dass mehr als 37 Prozent der Berufsmusiker/innen kein für sie passendes psychologisches Hilfsangebot in Anspruch nehmen würden. Fast noch erschreckender ist das Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit des Hilfesuchens abnimmt, je ausgeprägter die Depressionssymptomatik ist. Rosenbaum resümiert: "Das bedeutet, dass gerade diejenigen, die am dringendsten Hilfe benötigen, sich diese nicht suchen."
Rosenbaum betont, dass die Studie eine Momentaufnahme der Monate Juli und August 2021 darstellt und keine Nacherhebung erfolgte. Außerdem kann nicht als sicher gelten, dass sie die Gruppe der Berufsmusiker/innen tatsächlich repräsentativ erfasst. Weitere Probleme sind eine gewisse Umfragemüdigkeit unter Musikern sowie die schwierige Abgrenzung des Typus "Berufsmusiker".
Mögliche Lösungsansätze
Die Studie versteht freiberufliche Berufsmusiker/innen als eine Gruppe mit einzigartigen Bedürfnissen und Herausforderungen, was auch an ihrer speziellen und anspruchsvollen Berufssituation liegt. Daher bestehe für die Praxis dringender Handlungsbedarf. Rosenbaum fordert die Förderung spezifischer, maßgeschneiderter Behandlungsansätze für Berufsmusiker.
Vorzugsweise sollten diese Angebote durch Peer-to-Peer Personen durchgeführt werden (also Personen, die sich in der Branche auskennen oder selbst darin tätig sind). Außerdem sollten sie leicht und zeitnah zugänglich sowie finanziell erschwinglich sein.
Gesellschaftliche Aufwertung nötig
Rosenbaum plädiert zusätzlich dafür, dass sich Gesellschaft und Politik auch im Allgemeinen um Möglichkeiten zur Verbesserung der öffentlichen Wertschätzung von Musik bemühen sollten.
Nur dadurch sei dem Gefühl der gesellschaftlichen Zurückweisung und des Imageverlustes sowie dem Fehlen nötiger Präventions- und Ressourcenmöglichkeiten bei Berufsmusiker/innen entgegenzuwirken.
Wichtiger Hinweis: Unter den gebührenfreien Telefonnummern +49 (0)800 111 0 111 bzw. +49 (0)800 111 0 222 ist die bundesweite Telefonseelsorge bei Depressionen und anderen psychischen Notfall-Situationen erreichbar.
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