×

Depressionsgefahr bei Kreativschaffenden

Wie sich der Künstlerhilfe e.V. für die Förderung psychisch kranker Künstler einsetzt

Interview von Markus Biedermann
veröffentlicht am 12.07.2022

gesundheit depression berufswelt coronakrise

Wie sich der Künstlerhilfe e.V. für die Förderung psychisch kranker Künstler einsetzt

Stefan Hossfeld, 2. Vorstitzender des Künstlerhilfe e.V. © Fatih Doganer

Das Thema "Mentale Gesundheit" gewinnt in der Musikbranche stetig an Relevanz. Initiativen und Vereine gründen sich, um aktiv zu werden. Welche Hilfsangebote bietet der Verein Künstlerhilfe e.V. Und welche persönlichen Erfahrungen stecken dahinter? Darüber sprechen wir mit Stefan Hossfeld, seines Zeichens Schauspieler, Bühnenkünstler, Sänger und zweiter Vorsitzender des Vereins.

Backstage PRO: Hallo Stefan. Wir haben Depressionen und Burn Out bereits in einem Fachartikel thematisiert. Mit Mental Health in Music gibt es seit kurzem einen Zusammenschluss von Psychologen und Psychologinnen, die sich speziell der Musikbranche annehmen. Kurt Krömer ist mit seinem Buch über seine Depression sehr erfolgreich und in der Öffentlichkeit präsent. Ist die Wahrnehmung falsch, dass das Thema wachsende Resonanz findet?

Stefan Hossfeld: Ich würde grundsätzlich sagen, dass es eigentlich kein neues Thema ist. Das Krankheitsbild hat schon immer existiert. Aber viele Jahrzehnte lang bestand dafür einfach kein Vokabular, geschweige denn die Bereitschaft oder der Mut, mentale Probleme überhaupt zum Thema zu machen. Der Umgang damit war lange Zeit zum Beispiel so, dass man zu einer Depression “Melancholie” sagte, worüber man heute fast schmunzeln kann. Ich freue mich extrem darüber, dass sich endlich Plattformen dafür finden.

Backstage PRO: Hast du eine Einschätzung, wie groß das Problem wirklich ist? Es werden ja nicht alle Betroffenen erfasst.

Stefan Hossfeld: Schwierig zu sagen, aber persönlich würde ich schätzen, dass 30 % der Kreativschaffenden in der ein oder anderen Weise davon betroffen sind oder bereits waren. Es ist natürlich eine ganz schwierige medizinische Einstufung. Im ICD-10, der Bibel der Psychotherapie, wird nicht umsonst zwischen einer mittel, einer leichten und einer schweren Depressionen unterschieden. Dazu kommt eine Vielzahl individueller Unterschiede. Es können 1000 Auslöser sein, die überhaupt erst in eine Depression führen.

Backstage PRO: Du hast eine Zusatzausbildung gemacht, um dich der Thematik zu nähern.

Stefan Hossfeld: Ich bin durch Zufall in den Bereich systemisches Coaching hineingeraten, nachdem ich Ende der 1990er angefangen hatte, als Trainer zu arbeiten. Während meiner Ausbildung bekam ich witzigerweise immer die psychologischen Themen, aber meine ganzen Kollegen die Business-Themen. Das war merkwürdig, aber es hat mir Spaß gemacht. Irgendwann kam daher noch der Wunsch in mir auf, eine Ausbildung zum psychotherapeutischen Heilpraktiker dranzuhängen. Diese Schule habe ich letztes Jahr absolviert und dieses Jahr folgt noch die Amtsärztliche Prüfung, damit ich als Psychotherapeut arbeiten darf.

Backstage PRO: Wie kam es dazu?

Stefan Hossfeld: Ich denke, das hat viel mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun. Ich bin in den Sechzigern geboren, komme also aus einer Generation, wo viel verdrängt und viele Probleme beiseite geschoben wurden – was mich oft sauer gemacht hat! Dadurch ist der Wunsch in mir entstanden, mich diesem Thema immer mehr zu nähern. Und ich finde es toll, wenn ich jemanden vor mir sitzen habe und man auf eine Art miteinander sprechen kann, dass ein Aha-Effekt entsteht. Das ist immer eine tolle Bestätigung für mich.

Andreas Schmidt alias Tante Woo, 1. Vorsitzender des Vereins, erzählt in diesem NDR-Beitrag seine Geschichte

Backstage PRO: Beim Künstlerhilfe e.V. bringt ihr alle vergleichbare Erfahrungen mit und ihr seid auch alle selbst in Kunst und Kultur tätig. Aus dieser Innensicht heraus, was ist als Auslöser psychischer Probleme relevanter: das Klischee von der empfindsamen Künstlerseele oder der Druck in einer Leistungsgesellschaft bestehen zu müssen?

Stefan Hossfeld: Es sind zwei Aspekte für mich. Zum einen ist ein Künstler, insbesondere Musiker, Tänzer und Schauspieler, durch die Ausbildung oder durch den Berufsweg generell sehr dazu getrieben, Emotionen als Handwerk einzusetzen. Wie heißt es manchmal so schön bei diesen furchtbaren Castingshows? "Ich spüre nichts”, oder “du hast mich nicht gecatcht". Aber darum geht es ja wirklich. Als Künstler muss ich den ganz besonderen Zugang zu mir selber finden, in die Emotionen hinein gehen. Das ist ein langer Weg und dann wird die Emotion plötzlich zum Handwerk. Das kannst du an meinem Beispiel festmachen: Ich hatte mal eine Theaterproduktion, bei der ich an meine Figur nicht ran kam. Der Druck auf mich hat sich im Laufe der Zeit stark erhöht. Irgendwann platzte es regelrecht und ich bin so stark in diese Emotion gegangen, dass ich nach dem Spielen 2 bis 3 Stunden ein Problem damit hatte, wieder zur mir selbst zurück zu kehren. Will sagen: Emotion ist ein ganz besonderer Faktor, der uns in vielerlei Hinsicht feinfühliger macht.

Backstage PRO: Und der zweite Aspekt?

Stefan Hossfeld: Das ist der ganze berufliche Aspekt, insbesondere der Umgang von außen, also dem beruflichen Umfeld, mit den Akteuren. Ich finde es zum Teil selbst unfassbar, wer über mich schreibt, obwohl offenbar nicht verstanden wurde, worum es beim jeweiligen Stück eigentlich geht. Das ist ein ganz eigenes Thema. Aber irgendwann – ich glaube, so geht es vielen – stürzt eben alles aufeinander ein. Wenn die Gefühle und die Emotionen dann plötzlich nicht mehr kanalisiert werden können, läuft es schnell in die falsche Richtung. Und das ist insbesondere für Kreativschaffende fatal, weil man ja oft nicht fest angestellt, sondern Freiberufler ist und damit entsprechende Existenzrisiken verbunden sind.

"Es ist in dieser Branche nach wie vor so, dass man sowas nicht gerne öffentlich machen möchte."

Backstage PRO: Wie kann man sich auffangen in einer Situation, die sich so rasch entwickelt? Durch Routine?

Stefan Hossfeld: Zuerst steht man dann da und fragt sich: Wie kann ich mich stabilisieren? Wie kann ich zumindest diesen Abend durchziehen, auch wenn ich nicht grandios bin? Es ist wichtig zu begreifen, dass man nicht mit 150 % auf die Bühne muss, sondern 90 % auch reichen – und es ist trotzdem gut! Hat man es dann geschafft, zumindest diese eine Vorstellung zu machen, kann man sich wieder fangen. Aber das ist Übung. Es ist wirklich Übung.

Backstage PRO: Was sagt ihr zu jemanden, der sich mit dem Gefühl bei euch meldet, dass sich alles gerade in eine schlechte Richtung dreht? Die letzten Jahre gaben ja genug Anlass zu Sorgen, bei Musikschaffenden bspw. der Mix aus geringen Streaming–Einnahmen, Konzertausfällen und dem Druck, sich nach außen hin trotzdem ständig positiv darstellen zu müssen.

Stefan Hossfeld: Unsere Antworten darauf sind sehr unterschiedlich. Wir haben in den letzten Jahren klein angefangen und erstmal sehr viel finanzielle Hilfe leisten können. Das nimmt in vielen Fällen schon mal den ersten großen Druck weg. Vor allem aber ist wichtig: Das Gespräch, das Gespräch, das Gespräch, um dabei offenzulegen: Was ist wirklich los? Es sind wie erwähnt oft mehrere Faktoren, die im Laufe von ein, zwei, drei oder mehr Jahren zusammenkommen. Vielleicht gab es neben den Konzertausfällen für den Betroffenen auch noch eine heftige Trennung? Sogar eine wichtige Operation kann zu Depressionen führen. Bei einer schweren Depression kommen sogar fünf Faktoren zusammen. Manchmal lässt sich eben einer davon heraus picken, um den Druck etwas zu mildern.

Backstage PRO: Wie viele Menschen trauen sich eigentlich nicht, als Betroffene nach außen zu treten? Viele werden sich doch sagen “eigentlich bin ich Entertainer, zuständig für gute Laune und nicht derjenige, der hier meine Probleme vor sich her trägt”.

Stefan Hossfeld: Der Anteil derer, die sich diesbezüglich noch nicht offenbaren oder nur im stillen Kämmerlein oder nach zwei Glas Wein, der ist schon sehr hoch. Es ist in dieser Branche nach wie vor so, dass man sowas nicht gerne öffentlich machen möchte. Eine Sorge ist, dass dich Produktionsfirmen nicht mehr engagieren würden, weil plötzlich die Nachfrage der Versicherung kommt: “Ihr lasst diesen Künstler hier auftreten? Letzte Woche hat er noch das Hotelzimmer kaputt gemacht aufgrund seiner Bipolarität”. Es gibt zahlreiche solcher Sachen, die da mit hinein spielen.

Backstage PRO: Wie die Sorge davor, dass eine Tour vielleicht ganz ausfällt, weil plötzlich der Burn-Out da ist.

Stefan Hossfeld: Ja. Da reden wir von viel Geld, auch in unserer Branche.

Backstage PRO: Jemand wie Kurt Krömer ist also die Ausnahme?

Stefan Hossfeld: Kurt Krömer hat etwas daraus gemacht. Er greift das Thema als Buch auf, bringt es in die Öffentlichkeit. So nach vorne zu gehen, das konnte er sich glücklicherweise auf dem Level, auf dem er sich bewegt, aber auch leisten. Viele können das nicht.

Backstage PRO: Wie können Dritte – Bandmitglieder, Ensemblemitglieder, Freunde – denn erkennen, wann ein guter Zeitpunkt ist, um Betroffene anzusprechen, die von sich aus nicht aktiv werden?

Stefan Hossfeld: Ab wann kann man jemanden ansprechen und ihn dabei unterstützen oder helfen? Ganz schwieriges Thema! Klar kann man Signale geben. Aber es kann eigentlich erst richtig mit der Hilfe losgehen, wenn die Person zu dir kommt und von sich aus sagt, dass sie Hilfe braucht. Vorher hast du kaum eine Chance. Zudem bist du als Laie in der Gefahr, falsche Ratschläge zu erteilen. In manchen Situationen braucht es eine fremde Person, die einen geeigneten Weg aufzeigt.

Backstage PRO: Oft fällt das Umfeld ja aus allen Wolken. “Das kann doch nicht sein, so habe ich dich ja nie erlebt”, heißt es dann. Aber lässt sich nicht doch früher erkennen, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist?

Stefan Hossfeld: Ja, natürlich gibt es ganz klare Anzeichen. Ich war selbst schon in eine sehr schwere Depression geraten. Damals kam jemand von außen, hat mich am Kragen gepackt und gesagt: "So, du suchst dir jetzt professionelle Hilfe und erst dann reden wir weiter!" Ich hab meinen Freund damals nur angeguckt und spürte sofort "okay, mir bleibt nichts anderes übrig, anscheinend ist es wirklich gerade schlimm.” Und so war es dann auch. Also – das funktioniert schon. Aber du kannst erst etwas bewirken, wenn dein Gegenüber auch bereit dafür ist.

Backstage PRO: Es kann lange dauern, bis solche Bereitschaft da ist.

Stefan Hossfeld: Es funktioniert schon, das Problem jemanden ins Bewusstsein zu bringen. Am besten mit leichteren Themen. Sobald man ein seltsames Verhaltensmuster beobachtet, sollte man seinen Eindruck erklären. So nach dem Motto "guck mal, ich habe dich gerade so wahrgenommen. Hast du das auch mitbekommen?" Es kann sehr helfen, ein Gegenüber zu haben, das dich kurz spiegelt und eine Wahrnehmung schafft. Wenn ein guter Freundeskreis und stabile Familien-Ebenen existieren, wo solch ein Umgang miteinander möglich ist, dann ist das toll. Aber sowas existiert ja nicht immer. Und es ist nur ein Blitzlicht, nicht mehr.

Backstage PRO: Ihr wollt ja mehr erreichen, als nur ein einmaliges Blitzlicht abzufeuern. Was beschäftigt euch aktuell am meisten?

Stefan Hossfeld: Wir haben die letzte Zeit viel zusammen mit dem corona-künstlerhilfe e.v. agiert. Dadurch haben wir weiteren Input bekommen. Andreas, unser 1. Vorsitzender und ich, haben dabei gemerkt, dass wir jetzt mehr in die Offensive gehen wollen. Wir wollen verstärkt schnelle Hilfe anbieten. Um uns entsprechend aufzustellen suchen wir gerade eine Geschäftsstelle. Was wir bisher aus unseren Wohnzimmern heraus leisten, soll sich dort zu einer echten Anlaufstelle professionalisieren. Leider gehen in der aktuellen wirtschaftlichen Gesamtlage die Spenden etwas zurück. Aber wir geben nicht auf.

Gemeinsamer Podcast von Künstlerhilfe e.V. und corona-künstlerhilfe e.V. (Teil 1) mit Stefan Hossfeld und Timm Markgraf

Backstage PRO: Wie stellt ihr eure Anlaufstelle personell auf?

Stefan Hossfeld: Ich kann ein erster Ansprechpartner sein, aber wir haben noch andere Therapeuten, die wir hinzuziehen können, was dann auch über den Verein mitfinanziert werden kann. Uns ist einfach wichtig, dass schnelle Hilfe geleistet werden kann. Mittel bis langfristig wollen wir noch Projekte angehen, über die man die Menschen auch wieder zurück in die Arbeit bringt.

Backstage PRO: Habt ihr bestimmte Forderungen an die Politik, was den Umgang mit der ganzen Thematik angeht?

Stefan Hossfeld: Die Politik müsste definitiv stärker mitwirken und sich des Themas annehmen. Ich erwarte von der Politik zum Beispiel Unterstützung in Verbindung mit allem rund um die Krankenkassen. Es muss ein Plan her, um zukünftig schneller reagieren zu können. Wenn jemand ein halbes Jahr benötigt, um überhaupt einen Therapieplatz zu finden,… Nun, das ist wie beim Zahnarzt. Mein Zahn ist jetzt entzündet und nicht in einem halben Jahr! Falls nicht schnell geholfen wird, dann wird das Gesundheitssystem später umso mehr belastet.

Backstage PRO: Bemüht ihr euch um öffentliche Fördergelder?

Stefan Hossfeld: Klar, natürlich versuchen wir auch an städtische und staatliche Hilfen ranzukommen, so dass wir den Verein einfach auf sichere Füße stellen können. Solche Vereine tun ja vieles zusätzlich, was Krankenkassen oder Politik oft gar nicht leisten können.

Backstage PRO: Man kann euer Engagement nur begrüßen. Falls sich Leser angesprochen fühlen, wer kann sich an euch wenden?

Stefan Hossfeld: Wir haben in Hamburg angefangen und der Fokus liegt noch auf der Region, doch wir wollen darüber hinaus bekannt und aktiver werden. Es wäre toll, wenn unser Gespräch dazu beitragen kann. Wenn es Fragen seitens eurer Community gibt, dann bitte einfach direkt über unser Profil den Kontakt aufnehmen!

Backstage PRO: Danke dir für deine Zeit, Stefan.

Unternehmen

Ähnliche Themen

Depressionen bei Musikern und Künstlerinnen: Ursachen und Lösungsansätze

Spezifische Gefahren für Kulturschaffende

Depressionen bei Musikern und Künstlerinnen: Ursachen und Lösungsansätze

veröffentlicht am 02.10.2020   17

Post-Tour-Depression bei Musikern: So überwindest du das Stimmungstief nach einer Tournee

Wenn Konzerten deiner Band die große Leere folgt

Post-Tour-Depression bei Musikern: So überwindest du das Stimmungstief nach einer Tournee

veröffentlicht am 03.12.2019   3

Newsletter

Abonniere den Backstage PRO-Newsletter und bleibe zu diesem und anderen Themen auf dem Laufenden!