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"Deutschland Katastrophenstaat" oder Die ewig Unzeitgemäße.

Ein Glückwunsch an Computerstaat, das Meisterwerk der Hamburger Band Abwärts

Spezial/Schwerpunkt von Alex Aßmann
veröffentlicht am 31.12.2020

abwÄrts musikgeschichte

Ein Glückwunsch an Computerstaat, das Meisterwerk der Hamburger Band Abwärts

Ein Live-Foto von Abwärts, das der 2019 verstorbene Szenefotograf Richard Gleim in den Anfangsjahren der Band fotografiert hat. © ar/gee gleim

"Computerstaat", die erste EP der Hamburger Band Abwärts, erschien im April 1980. Alexander Aßmann gratuliert dem für den deutschen Punk stilprägenden Werk zum 40. Geburtstag und zeichnet dessen Entstehungsgeschichte nach.

Bei den biografischen Initialerfahrungen oder sogar "Urszenen" des Punk in Westdeutschland, von denen in Jürgen Teipels großartiger Oral-History-Collage Verschwende Deine Jugend vielfach die Rede ist, übernehmen einerseits The Stooges und The Ramones die Schlüsselrollen. Andererseits ist hier immer wieder auch die Rede davon, wie irgendein junges Kerlchen ein Hakenkreuz auf den Schultisch kritzelt – denn er weiß, das wird den verhassten 68er-Lehrer dort vorn "so richtig betroffen" machen.

Meist datieren diese biografischen Anekdoten Mitte bis Ende der Siebzigerjahre, der deutsche Herbst ist nah und die Bundesrepublik ein Dorf. Und eines der Trägerelemente dieses Narrativ, das in Teipels Buch entwickelt wird, besagt, jenes deutsch-Entenhausen, in dem man sich zu Tode langweilte, sei nicht von der RAF, sondern vom ultraprimitiven Schlagzeug-Gitarren-Bass-Brett der Ramones planiert worden. Der andere Stützpfeiler dieser Geschichte beruht auf der These, dass der große Generationenbruch, der ab Ende der Siebzigerjahre den Punk hervorgebracht habe, zu den 68ern hin abgewickelt worden sei. Als Hassobjekte dieser ersten Post-Achtundsechzig-Generationen begegnen sie einem als die Lehrer, die unterdessen aus den 68ern geworden waren. Ganz im Unterschied zur Geschichte von Achtundsechzig grenzt man sich in der Geschichte des westdeutschen Punk nicht mehr von den Eltern ab – sondern von Lehrern, die noch die Ideale der Protestbewegung verkörpern. Punk, darauf beläuft es sich fast schon ein bisschen zu heroisch, sei die erste Jugendsubkultur gewesen, die endgültig mit Achtundsechzig gebrochen hat.

Kurioserweise wird diese Geschichte geradewegs durch eines der sehr wenigen musikalischen Meisterwerke lügen gestraft, das zugleich dem Punk in Deutschland maßgeblich seine Form gegeben hat – nämlich Computerstaat von Abwärts, das wahrscheinlich hierzulande am häufigsten gecoverte Punkstück. Und so ist es wohl auch kein Zufall, dass in Verschwende Deine Jugend der Erzählstimme von Margita Haberland erstaunlich wenig Raum gegeben wird. Denn die ehemalige Sängerin von Abwärts untergräbt diese vermeintlich stichhaltige Erzählung, einfach, indem sie da ist. Anders gesagt, ließe sich ihre Biografie, aber damit auch die frühen Abwärts, gewissermaßen als der empirische Gegenbeweis zu der These heranziehen, im Deutschland der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre habe es sich beim Punk um das kulturelle Anti-Achtundsechzig-Phänomen schlechthin gehandelt.

Doch fast genauso merkwürdig ist das Desinteresse der Geschichtsschreibung zur Kulturrevolution von Achtundsechzig an Personen wie Margita Haberland, deren Biografien Brücken zwischen der historischen APO und der kulturellen »Null Bock«-Attitüde der frühen Achtziger schlagen. Jedenfalls handelt es sich bei den ersten beiden Abwärts-Produktionen, also bei der Computerstaat-EP ebenso wie bei der Amok Koma-LP – beide sind 1980 auf "ZickZack Schallplatten" erschienen –, um Gewächse auf dieser spannungsreichen zeitgeschichtlichen Brücke.

"Die Utopien waren ihnen längst abhanden gekommen"

Insofern ließe sich allerdings auch die Geschichte des Punk in Westdeutschland von zwei Seiten her erzählen.

Erzählte man sie aus dem Blickwinkel der damals meist männlichen Jugendlichen, die pubertär mit NS-Symbolik kokettieren und ihre Lehrer ärgern wollen, dann handelte es sich um einen vergleichsweise uninteressanten Plot. Eine Kleinjungengeschichte eben, auch wenn sie ihre geschichtspolitisch bedenklichen Züge hat.

Interessanter, gehaltvoller und facettenreicher wird diese Coming-of-Age-Geschichte, als solche sich Punk ja in der Tat erzählen lässt, erst, wenn man bei Haberlands in Verschwende Deine Jugend fast schon zurückhaltend dahingesagtem Satz aufmerksam hinhört, dass sie, Haberland, "sowohl 68er als auch 77er" war. Nicht nur hebt sie damit eine der dominanten Thesen, die das Buch etabliert, leichthin aus den Angeln. Sondern Haberland umreißt damit auch recht anschaulich den widersprüchlichen Entstehungskontext von Punk in Westdeutschland, in dem noch viele Elemente von Achtundsechzig erhalten waren und zugleich – in einer denkwürdigen Dialektik – überwunden wurden.

Kein Song spiegelt das so deutlich wieder, wie Computerstaat. Alleine philologisch bleibt er rätselhaft. Und fast noch rätselhafter erscheint es mithin, wie häufig er gecovert wurde und immer noch wird. Stalingrad, Stalingrad/ Deutschland Katastrophenstaat – erstaunlich, wie hier nur die militärische Dimension des deutschen Faschismus in einer Dystopie fortzuwähren scheint, so als hätte es die rassistische und antisemitische Dimension nie gegeben. Gerade dieses extrem lautstarke Schweigen über Auschwitz öffnet das Lied zunächst in beide Richtungen. Pubertierende Jungpunker, die bereits in den Siebzigern von der "Aufarbeitung der Vergangenheit" so langsam die Schnauze voll hatten, konnten ebenso emphatisch mitgrölen, wie sich Achtundsechziger, die in der Vergangenheit lieber den Vietnamkrieg als "zweites Auschwitz" deklarierten als die ungebrochene Kontinuität des Antisemitismus noch in der Neuen Linken zu benennen, von dem Lied ein Stück weit abgeholt fühlen konnten.

Nur waren ihnen die Utopien da ja ebenfalls längst abhanden gekommen: Montag klopft es an die Tür/ Und Arafat, der steht neben dir – die Einsicht, dass palästinensische Heilsversprechungen der Gegenwart eine ähnliche Marschrichtung einschlagen könnten wie die Wehrmacht in der Vergangenheit, legt für den Text die Spur fest, auf der er sein Ziel ansteuert: Weltkrieg. Es scheint paradox, aber gerade dieser Aussparung von Auschwitz verdankt sich das Potential von Computerstaat zur ewigen Antifa-Hymne.

Sicherlich lassen sich weder Computerstaat noch Abwärts auf den Beitrag Margita Haberlands reduzieren. Doch der Erfolg und Kultstatus, den sowohl diese EP als auch die Amok Koma-LP erlangt haben, hätten sich (obwohl Haberland auf der Single-Version von Computerstaat nicht einmal zu hören ist) ohne sie wahrscheinlich nicht eingestellt; dafür nimmt und nahm man von vornherein beide Tonträger viel zu sehr wie aus einem Guss wahr. Und diese Wahrnehmung wurde von vornherein mindestens ebenso markant durch die rauchige und etwas nölige Stimme Margita Haberlands gelenkt, der man die theatergeschulte Stimmbildung gerade dann besonders gut anmerkt, wenn sie sich extra dick mit zeitgenössischem Szene-Dada verhüllt ("The next little Deutschmark"), wie durch das Songwriting und die Texte. Aber gerade jene Theaterausbildung, die Haberlands Stimme so deutlich anzuhören ist, stellt die enge Verbindung zwischen ihrer Biografie, der Protestbewegung der Sechzigerjahre und dem aufkommenden Linksterrorismus her – und verweist damit auf einen zeitgeschichtlich-biografischen Komplex, dessen Echo man somit auch noch in der Frühphase des Punk deutlich hört.  

"Der westdeutsche Punk wurde in seiner Frühphase von kaum einem Song so markant geprägt"

Auf der wunderbaren Videoaufzeichnung eines frühen »Abwärts«-Konzerts im Kreuzberger SO36 ist Haberland gut zu erkennen, wie sie – eine etwas hagere junge Frau mit kurzen Haaren und abgeschnittenen T-Shirt-Ärmeln – ihre Arme in die Luft wirft und ziemlich peitschend Stalingrad, Stalingrad skandiert.

Noch etwas genauer als auf der besagten VHS-Aufzeichnung ist dieselbe Frau jedoch auf einem berühmten Pressefoto vom 11. Juni 1967 zu erkennen, nur eben etwas jünger. Gemeint ist die Aufnahme vom sogenannten Buchstabenballett, das wenige Tage nach der Ermordung Benno Ohnesorgs mit bemalten Shirts auf dem Berliner Ku’damm eine Art Tanzperformance aufführte (und den Verkehr blockierte), bei der die Beschriftung der Shirts einmal das Wort "ALBERTZ" zeigte – und dann wieder, wenn die Ensemble-Mitglieder die Plätze tauschten und manche sich umdrehten, "ABTRETEN!" Hier ist Haberland also ebenfalls zu sehen, noch mit langem Haar und mit der Gedächtniskirche im Rücken, wie sie als zweite von links neben Gudrun Ensslin – diese ganz rechts im Bild – in der Reihe steht. Ensslin, die spätere Mitbegründerin der RAF, trägt das Shirt mit dem "N"; Haberland, die spätere Abwärts-Sängerin und frühe Ikone des westdeutschen Punk, das mit dem "T".

Auch in Bernward Vespers Romanessay Die Reise, der nur zwei Jahre nach Amok Koma erschienen ist und sogleich – auch wenn sich der Rezensent damit ein wenig verhoben hat – als der "Nachlass einer ganzen Generation" bezeichnet wurde, erscheint sie ein paarmal. Vielleicht fand es Margita Haberland selbst ein wenig kurios, als sie somit binnen kürzester Zeit ihre eigene Biografie in zwei scheinbar grundverschiedene historische Epochen eingeordnet und vielleicht auch eingepfercht fand: Einmal als lebensgeschichtliche Ausformung eines Jetzt, das nach dem deutschen Herbst und in einer Epoche stattfindet, die den Horizont der Neuen Linken und ihrer politischen Ziele überwunden hat. Und plötzlich noch einmal als Teil eben dieser überwunden geglaubten Geschichte von Achtundsechzig. Vielleicht hatte sie aber auch andere Sorgen, wer weiß. Wenn sich aber die literaturgeschichtliche Bedeutung von Bernward Vespers Reise nicht ohne die inneren Umwälzungen des "roten Jahrzehnts" (Gerd Koenen) ermessen lässt, dann auch der musikgeschichtliche Status der ersten beiden Abwärts-Veröffentlichungen nicht so wirklich.

Zum ersten Mal erscheint Haberland an einer Stelle in Bernward Vespers Reise, bei der er – noch als der damalige Verlobte Gudrun Ensslins – von einer Fahrt nach München berichtet und er dort einer gewissen Margit begegnet. Die beiden kommen ins Gespräch und sitzen schon kurz darauf vor dem Odeon, wo sie besoffen faule Tomaten gegen die Fassade schmeißen. Später im Buch erscheint Margit erneut. Hier präpariert sie gemeinsam mit Vesper eine Trauerflorbeflaggung, um sie mit zur Anti-Schah-Demo am 02. Juni 1967 zu nehmen. Zu dieser Zeit wohnte Margita Haberland bereits bei Vesper und Ensslin in der Charlottenburger Fritschestraße, denn erst kurz zuvor war sie einfach in Berlin geblieben, nachdem sie in der Frontstadt an den Theatertagen teilgenommen hatte. Und so nimmt es auch nicht wunder, wenn sie mehrmals noch in Gudrun Ensslins und Bernward Vespers spätem Briefwechsel 1968-1969 auftaucht, als Ensslin schon in Frankfurt-Preungesheim wegen Kaufhausbrandstiftung einsaß und Vesper sich um ihr gemeinsames Kind kümmerte. Auch bei einem weiteren Schibboleth der Achtundsechziger-Proteste, nämlich der Störung eines Gastvortrags von Theodor W. Adorno an der FU Berlin im Juli 1967 ("Berlins linke Faschisten grüßen Teddy, den Klassizisten"), ist sie ganz vorne mit dabei. Denn es war ebenfalls Margita Haberland, die ans Katheder eilte, um Adorno feierlich einen Quietsche-Teddy aus Gummi zu überreichen. Zu einer weiteren kuriosen Begegnung kam es, als sie Berlin schon wieder verlassen und nach München zurückgekehrt war – also in die Stadt, in der sie Jahre zuvor ihre Theater-Ausbildung abgeschlossen hatte. Jetzt gehörte Margita Haberland zum Ensemble des von Horst Söhnlein geführten action theatre, als plötzlich Andreas Baader und Gudrun Ensslin dort wieder auftauchten. Auf ihrem Weg zur Kaufhausbrandstiftung hatten sie noch einen Zwischenhalt in München einlegt und wollten anscheinend auch Haberland dafür rekrutieren, sich ihnen anzuschließen. Hätte sie damals ja gesagt (und nicht: "Ihr spinnt ja wohl!"), dann wären auf den ebenfalls längst historischen Pressefotos von der Anklagebank des Frankfurter Schwurgerichts ("Kaufhausbrandstifterprozess") mit einiger Wahrscheinlichkeit zwei Männer und zwei Frauen zu sehen. Stattdessen ließ damals Horst Söhnlein alles stehen und liegen und fuhr mit nach Frankfurt.

Weshalb sich die Achtundsechziger-Historiker bisher so wenig für die spätere Abwärts-Sängerin interessiert haben, wäre ein Kapitel für sich. Aber auf jeden Fall ist gerade jenes Lied, das den Aggressions- und Militanzpegel der Neuen Deutschen Welle dermaßen weit in die Höhe gepitcht hat, dass man im Falle von Computerstaat eigentlich eher schon von Proto-Hardcore als von Punk reden müsste, noch auf der zeitgeschichtlichen Rinde der APO gediehen. Zugleich wurde der westdeutsche Punk in seiner Frühphase von kaum einem Song so markant geprägt wie von dieser Abwärts-Nummer, die hierzulande ein völlig neues Härtelevel als Standard festgelegt hat.

Nein, Punk war also keine Anti-Achtundsechziger-Bewegung, es ist – wie so oft – komplexer und verschlungener. In der Geschichte geht es eben nicht "ohne Atempause voran". Sondern die Historie schleppt immerzu ihre Anachronismen noch ein Stück weit mit sich herum. An nur wenigen Liedern ließe sich die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", die natürlich auch den Punk durchdringt, so schön illustrieren wie an Computerstaat. Und kaum ein Song widerlegt die "Anti-Achtundsechzig-These" so vehement, wie ausgerechnet dieser, der den Punk wirklich auf die Bühne der westdeutschen Musiklandschaft geschubst und ihm den Rückweg in die kulturelle Bedeutungslosigkeit versperrt hat.

Vielleicht hängt es ja ebenfalls mit der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" zusammen, dass man diesem Lied sein Alter kaum anmerkt. Fast unbemerkt wurde es dieses Jahr vierzig. Ganz herzlichen Glückwunsch! Man wird es voraussichtlich noch in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren regelmäßig zu hören bekommen – in den AZs, JUZs und Kneipenkollektiven der BRD, aber auch in der einen oder anderen wirklich sehr guten Bar.

So lässt es sich doch sehr gut altern, würde ich sagen.

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