×

Musik als Produkt und Dienstleistung

Was die Popularität von "Fake Artists" auf Streaming-Plattformen für die Musikindustrie bedeutet

Spezial/Schwerpunkt von Backstage PRO
veröffentlicht am 05.04.2022

spotify streaming

Was die Popularität von "Fake Artists" auf Streaming-Plattformen für die Musikindustrie bedeutet

© cottonbro via Pexels

Zwei schwedische Tageszeitungen untersuchen sogenannte "Fake Artists" auf Spotify – und illustrieren damit eindrucksvoll die Tendenz des Audiostreamings, Musik in erster Linie als Ware zu behandeln.

Music Business Worldwide bezeichnet das schwedische Label Firefly Entertainment, unter Berufung auf einen exklusiven Bericht der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter, als eines der aktuell am schnellsten wachsenden Independent-Labels der Welt. 

Laut dem letzten Finanzbericht von Firefly setzte das Unternehmen 2020 über 65 Millionen schwedische Kronen um. Das sind umgerechnet rund 7 Millionen Dollar bzw. 6,3 Millionen Euro – und gut das zehnfache des Umsatzes, den Firefly 2017 erwirtschaftete. 

Der Vorwurf

Dagens Nyheter behauptet, dass dieses beachtliche Umsatzwachstum des Independent-Labels Firefly zumindest teilweise auf die Verbreitung sogenannter "Fake Artists" auf der Streaming-Plattform Spotify zurückzuführen ist. 

Darunter versteht DN Künstlerinnen und Künstler, die keinen wirklich zuordenbaren Online-"Fußabdruck" besitzen, über die also außer ihrem Pseudonym meist keinerlei Informationen im Internet zu finden sind. Meistens geben sich diese Artists unauffällige, generische Namen, unter denen sie gleichsam unauffällige Musik produzieren. 

Zwei Sorten Fake

Es gibt auch eine weitere Kategorie von Fake Artists: Hier veröffentlichen Personen z.B. beruhigende Sounds wie etwa weißes Rauschen oder Regengeräusche unter Namen, die die dazugehörigen Suchanfragen antizipieren – "Music for Sleeping", "Relaxing Music" oder ähnliches. Sie versuchen also mittels SEO (Suchmaschinen-Optimierung, u.a. durch die Benennung nach häufig gesuchten Begriffen), den Play-Count ihrer "Songs" zu steigern.

Die Musik der von Dagens Nyheter als "Fake Artists" bezeichneten Künstlerinnen und Künstlern erhält, nicht zuletzt aufgrund ihrer wenig einprägsamen Namen, wohl eher weniger Traffic durch Suchanfragen. Stattdessen finden sich ihre Songs häufig als "Füllmaterial" auf u.a. von Spotify selbst kuratierten Playlists wieder und erlangen so teilweise hohe Wiedergabezahlen. 

Verbindungen nach ganz oben?

Die Musikindustrie spekuliert aus diesem Grund bereits seit geraumer Zeit darüber, ob Spotify mit diesen Artists eigene Verträge hat, nach denen diese einen geringeren Tantiemen-Anteil erhalten als beispielsweise bekannte Major-Artists. Die Artists wären also letztendlich Dienstleister, mit dem Auftrag, Spotify-Playlists mit Content zu füllen. 

In jedem Fall dürfte das erklärte Ziel beider Arten von "Fake Artists" klar sein: Durch das Ausnutzen der Funktionsweisen von Streamingplattformen möglichst viele Track-Wiedergaben zu erreichen, um so Tantiemen von den betreffenden Plattformen einstreichen zu können – und das, ohne wirklich viel Arbeit in die publizierten Songs stecken zu müssen. 

Missverhältnis

Wie Dagens Nyheter in diesem Zusammenhang berichtet, konnte die Zeitung zwischenzeitlich eine Liste über 830 Namen dieser Fake Artists erlangen, die im Zusammenhang mit dem Label Firefly Entertainment stehen. Mindestens 495 dieser Artists werden dabei auf Playlists gefeatured, die von Spotify selbst kuratiert werden. 

Wahrscheinlich ist diese Zahl jedoch noch wesentlich größer: DN gibt an, nur etwa 100 Playlists überprüft zu haben, obwohl es tausende dieser von Spotify kuratierten Playlists gibt. 

Das interessante an dieser erst einmal überwältigenden Anzahl von Künstlerinnen und Künstler ist, dass sich hinter den über 500 Fake Artists gerade einmal 20 Songwriter verbergen. Das ergab eine Recherche von DG bei der schwedischen Verwertungsgesellschaft STIM.

Mengenrabatt

Ein einziger dieser 20 Songwriter steckt laut DG hinter den Songs von insgesamt 62 der von Firefly vertriebenen "Fake Artists"; seine Musik wird laut Spotify von etwa 7,7 Millionen Menschen gehört. Laut der offiziellen Website von Firefly Entertainment umfasst der Katalog des Unternehmens derzeit über 7.000 Tracks mit über fünf Milliarden weltweiten Streams. 

Diese Zahlen zeigen zweierlei: Einerseits gilt für die meisten Fake Artists die Devise "Masse statt Klasse": Mehr Songs bedeuten tendenziell immer auch mehr Streams, da die Chance, dass die Songs abgespielt werden, steigt – und sich auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Reichweite von mehreren Tracks durch die Positionierung in Playlists gesteigert wird. 

Keine Beziehungen?

Andererseits ist es auffällig, dass die Songs der sogenannten "Fake Artists" auf so vielen Spotify-Playlists protegiert werden. Diesbezüglich gibt Dagens Nyheter an, dass das Firefly-Management eine "enge persönliche Beziehung" zu Nick Holmstén, einem ehemaligen Spotify-Manager, habe.

Holmstén kümmerte sich bis 2019 als Spotify "Head of Music" in erster Linie um das strategische Management von Playlists. Firefly-CEO Peter Classon wehrt sich gegen diese Behauptung:

"Es gibt keine direkte Beziehung zu Spotify oder irgendeine andere Art und Weise, die die Wiedergabelisten beeinflussen könnte. Spotify ist verantwortlich dafür, welche Songs sie in ihre Playlists aufnehmen. Außerdem haben wir keine Verbindung zu Nick Holmstén, der Spotify 2019 verlassen hat, die unser Geschäft beeinflussen könnte."

Es ist jedoch ein Fakt, dass Firefly als Partner und Investor von TSX Entertainment (New York) agiert – Nick Holmsténs neustes Musikunternehmen.

Verdachtsmoment

Inwiefern also eine Verbindung zwischen Spotify und Firefly Entertainment besteht, kann trotz der Recherchen von Dagens Nyheter nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden.

Im Zusammenhang mit den Recherchen der DN verweist Music Business Worldwide auch auf einen weiteren Artikel der ebenfalls in Schweden ansässigen Tageszeitung Svenska Dagbladet (SvD). Die Zeitung berichtet hier über den Komponisten Christer Sandelin, angeblich einen der erfolgreichsten "Fake Artists".

Laut SvD ist Sandelin inzwischen Betreiber des Labels Chillmi, das, wie auch Firefly Entertainment, "Chillout"-Musik von Künstlerinnen und Künstlern vertreibt, die gleichermaßen unauffindbar im Internet sind.

Die schwedische Zeitung schreibt, dass die von diesem Label vertriebenen 2.500 Songs zusammengerechnet mehr als 2,5 Milliarden mal gestreamt wurden – und behauptet darüber hinaus, dass Sandelin 2015 von Spotify selbst angeworben wurde, Instrumentalstücke für Spotify-eigene Chillout-Playlists zu erstellen – eine Behauptung, die sich leider ebenfalls nicht verifizieren lässt. 

Die Bedeutung von "Fake Artists"

Trotz der umfassenden Recherchen der beiden schwedischen Tageszeitungen bleibt der finale Beweis dafür, dass Spotify (oder auch andere Streamingplattformen) tatsächlich "Fake Artists" lancieren, aus. Was bleibt, sind die von Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet ermittelten Fakten zu den beiden Labels – und die Tatsache, dass diese offenbar durchaus eine reale Nachfrage bedienen.

Diese Nachfrage nach Ambient-Musik, die mehr als Produkt denn als künstlerischer Ausdruck funktioniert, steht wiederum für einen Paradigmenwechsel im Musikbusiness, der durch das Geschäftsmodell von Streamingdiensten zumindest stark vorangetrieben wird. 

Musik wird durch ihren Vertrieb via Spotify und Co. noch stärker zu einer Ware, als sie das in der Musikindustrie bisher bereits war: Für Streamingplattformen zählt in erster Linie die schiere Masse des Angebots; es kommt darauf an, möglichst viele diverse Suchanfragen beantworten zu können, während die Qualität des Angebotenen dabei zweitrangig bleibt

Musik ohne Kunst

Musik verliert so zumindest ein Stück weit ihren Stellenwert als diskrete künstlerische Äußerung: Ein Song ist immer nur die Überleitung zu einem nächsten Song; ein wirklicher Unterschied zwischen dem Material ist auf Playlists wie "Music for Reading" kaum festzustellen.

Dem Streamingdienst geht es darum, die Hörenden zu binden – mit Musik, die von Labels wie Firefly oder Chillmi stammt, deren "Künstler/innen" Massen an Musik produzieren, um so möglichst viele Songs in den schier endlosen Ambient-Playlists zu platzieren. Auf der Produktionsseite dominiert also das Paradigma, mit tendenziell belangloser Musik in großer Menge Umsätze zu generieren; Musik dient allein der Gewinnoptimierung. 

In den Händen der User

In dieser Hinsicht ist es auch interessant, dass die betreffende Musik zu großen Teilen über Indie Labels bereitgestellt wird, die erfahrungsgemäß einen geringeren Tantiemen-Anteil von Streamingdiensten erhalten als die Majors. Die Gleichung ist denkbar einfach: Wenn mehr Hörer/innen sich für diese Art von Musik interessieren, können die Tantiemenauszahlungen seitens Spotify und Co. im besten Fall signifikant gesenkt werden. 

Eine der wichtigsten Fragen, die die Präsenz von "Fake Artists" auf den Streamingplattformen impliziert, ist damit, inwiefern deren zunehmende Präsenz das Potential hat, Reichweite von "echten" Musikerinnen und Musikern abzulenken und so deren Einnahmen zu senken.

Auch, wenn die künftigen Entwicklungen sich zum jetzigen Zeitpunkt kaum verlässlich voraussagen lassen, scheint eine solche Trendwende zumindest wie ein Szenario, auf das es sich für Spotify und Co. lohnt, hinzuarbeiten.

Ein großer Teil der Macht über diese Entwicklung liegt letztendlich jedoch bei den Streaming-Usern: Wenden diese sich auch weiterhin bewusst Werken "echter" Künstler/innen zu, oder siegt der Komfort, sich von endlosen Massen ähnlich klingender Hintergrundmusik berieseln zu lassen?

Ähnliche Themen

15 Milliarden Streams: Schwedischer Künstler steckt hinter 650 Fake Artists

Anonymer Musiker entlarvt

15 Milliarden Streams: Schwedischer Künstler steckt hinter 650 Fake Artists

veröffentlicht am 21.03.2024   11

US-Entscheidung erhöht Streaming-Lizenzgebühren für Songwriter und Musikverlage

Spotify, Google und Amazon verzögern weiter

US-Entscheidung erhöht Streaming-Lizenzgebühren für Songwriter und Musikverlage

veröffentlicht am 15.07.2022   2

Französische Musiker sollen Mindestvergütung für Streaming erhalten

Ein historischer Deal

Französische Musiker sollen Mindestvergütung für Streaming erhalten

veröffentlicht am 13.07.2022   9

Streaming-Farmen: Wer ist eigentlich Schuld an manipulierten Streaming-Zahlen?

Der große Betrug

Streaming-Farmen: Wer ist eigentlich Schuld an manipulierten Streaming-Zahlen?

veröffentlicht am 06.07.2022   2

Newsletter

Abonniere den Backstage PRO-Newsletter und bleibe zu diesem und anderen Themen auf dem Laufenden!