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"Musik kann sich nicht mehr aus der Politik heraushalten"

Wie sich ukrainische Musikschaffende mit Musik für den Frieden einsetzen

Spezial/Schwerpunkt von Olga Kirschenbaum
veröffentlicht am 04.03.2022

ukraine

Wie sich ukrainische Musikschaffende mit Musik für den Frieden einsetzen

Die ukrainische Band BoomBox in besseren Zeiten. © BoomBox

Die ukrainische Nationalhymne ertönt derzeit auf der ganzen Welt. Sie gibt den Menschen Hoffnung und ist ein Zeichen des Beistands. In der schrecklichen Zeit des Krieges in der Ukraine spendet Musik Trost und ukrainische Musikschaffende nutzen ihre Popularität sowie ihr Talent, um ihr Land und ihre Mitbürgerinnen zu unterstützen.

Lange vor der Einführung des Begriffs "Influencer" war es gängig, dass berühmte Persönlichkeiten von ihrem Einfluss und ihrer Reichweite für wohltätige oder politische Zwecke Gebrauch machen.

Aktuell nutzen ukrainischstämmige Kreative ihre Social Media Accounts, um ihre Follower auf der ganzen Welt auf die Lage in der Ukraine Aufmerksam zu machen und der russischen Propaganda durch Aufklärung entgegenzuwirken.

Persönlich, politisch, aufrichtig

In unzähligen Videos richten sich Stars der ukrainischen Musikindustrie an ihre russischen Fans. "Jetzt ist es ein Verbrechen, sich nicht mitzuteilen", erklärt der ukrainische Popstar Nadya Dorofeeva mit über fünf Millionen Instagram- und über einer Million YouTube-Abonnenten. 

Ihr Appell richtet sich, so wie viele andere, vor allem an die russischen und belarussischen Mütter. Unter Tränen fleht sie die Sängerin in dem einminütigen Video aus einem Luftschutzbunker in Kiew heraus darum an, ihre Söhne nicht in den Krieg in die Ukraine ziehen zu lassen.

Einfache Bürger

In zahllosen Video-Botschaften erinnern die ukrainischen Kulturschaffenden an ihre Konzerte in Russland und sie erinnern in Russland tätige Musiker an deren Beliebtheit in der ukrainischen Bevölkerung. Damit verweisen sie auf deren staats-, nationalitäts- und sprachübergreifende Freundschaft – an die einfachen, herzlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen unter den einfachen Bürgerinnen und Bürgern, die keinen Krieg wollen.

Damit erreichen sie ihre russischen Kolleginnen, die wiederum ihre eigene Stellungnahme mit der Botschaft "Stoppt den Krieg" an ihre eigenen Fangemeinden senden. Diese Art von Unterstützung durch bekannte in Russland wohnhafte Persönlichkeiten ist ein (riskantes) politisches Statement und von großer Bedeutung, um die von unabhängigen Informationen ausgeschlossene Bevölkerung Russlands zu Protesten gegen den Krieg zu ermutigen.

Ein Vorbild bleiben

Ukrainische Musiker wie die Elektro-Folk-Band Kazka sind auch in der deutschen Musiklandschaft präsent. Die Leadsängerin, die auf dem Song “Bedingungslos” des Rappers und Produzenten Tua zu hören ist, singt auch weiterhin in ihren Videos.

Allerdings tut sie das nun beim Flechten von Tarnnetzen in einem Schulgebäude im westlichen Teil des Landes. Das gemeinsame Musizieren motiviert ihre Mitmenschen vor Ort und durch die Online-Präsenz auch landesweit.

Vielseitig aktiv

Die ukrainische Rapperin Alyona Alyona, Gewinnerin des Anchor Awards auf dem Hamburger Reeperbahn Festival 2019, veröffentlichte erst ein Jahr vor dem Angriff auf die Ukraine eine Friedensbotschaft in einem Feature mit dem deutsch-ukrainischen Rapper Olexesh. 

Derzeit verbreitet sie über ihr Instagram-Profil überlebenswichtige Informationen für die Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld und nutzt ihre Reichweite, um Spenden für Betroffene zu sammeln oder andere künstlerische Initiativen zur Bekämpfung der russischen Aggression gegen die Ukraine in den Sozialen Medien zu unterstützen.

Mittendrin

Neben der finanziellen und der tatkräftigen Unterstützung, der Koordination von Hilfsmaßnahmen und der Verbreitung aufklärenden Materials über Soziale Netzwerke gewähren Akteure der ukrainischen Musikszene auch besondere Einblicke in die gegenwärtige Situation:

Nachdem der Sänger Andrij Chlyvnyuk seine Familie in Sicherheit gebracht hatte, sah er sich auch als jemand, "der Lieder über die Lieder schreibt", wie viele andere prominente Ukrainer in der Pflicht, gegen die Angriffe der russischen Truppen zu kämpfen. Seine Band BoomBox hat bereits seit der Krim-Annexion 2014 keine Konzerte mehr in Russland gespielt.

Zwischen den Welten

Währenddessen zeigt die Newcomerin Yuyu, wie sie als Volontärin auf den Straßen der Hauptstadt patrouilliert und Medikamente für Bedürftige mit psychischen Erkrankungen einkauft, ohne eine Flucht in Erwägung zu ziehen.

Die 27-Jährige ist eine seit 10 Jahren in der Ukraine wohnhafte Russin und betont in ihren Instagram-Storys gegenüber den russischen Staatsbürgern immer wieder ihre persönlichen positiven Erfahrungen als Russin in der Ukraine. Erst 2021 feierte sie ihr Debüt als Solokünstlerin bei einem ukrainischen Indie-Label. 

YouTube sieht Blau-Gelb

Um die mediale Aufmerksamkeit auf die schrecklichen Geschehnisse in der Ukraine zu lenken, nehmen alle der genannten Musiker zusammen an dem YouTube-Flashmob der ukrainischen Musikszene teil: Der Thumbnail diverser Musikvideos zeigt nun die ukrainische Flagge mit dem russisch- und englischsprachigen Text "Während du dieses Video schaust, sterben in der Ukraine Menschen unter den Bombenangriffen der russischen Armee. Stoppt diesen Krieg!"

Genauso wollen die Artists ihre Icons auf den Musikplattformen Spotify und Apple ändern, was aufgrund der vorsätzlichen politischen Neutralität dieser Streaming-Dienste nicht möglich ist. Dass "Musik sich nicht mehr aus der Politik heraushalten kann", konnte die beiden On-Demand-Anbieter in diesem Anliegen noch nicht umstimmen

Lieder über und gegen den Krieg

Darüber hinaus rief The Voice Ukraine alle Musikbegeisterten dazu auf, sich an ihrem Flashmob "Musikalische Verteidigung" zu beteiligen. Dafür sollen einfache, in der jeweiligen Unterkunft aufgenommene, Handy-Videos hochgeladen werden, in denen die Partizipierenden die ukrainische Nationalhymne und bekannte oder aktuell entstehende Lieder über den Krieg spielen.

An der Aktion nehmen die Kandidaten der diesjährigen Staffel des Show-Franchises auf dem ukrainischen Nationalsender 1+1 sowie andere Akteure der ukrainischen Unterhaltungsbranche teil. Ziel ist es, sich in dieser schwierigen Zeit gegenseitig durch Musik zu unterstützen. Zugleich behält das Land auf diese Weise buchstäblich seine Stimme. 

Musik ist Geschichte

Unter den Einflüssen politischer Entwicklungen sind in den vergangenen Jahren bereits viele kraftvolle Musikstücke ukrainischer Artists entstanden, einige davon erst kurz vor dem Angriff auf die Ukraine. Sie vermitteln die Anspannung, die Sorgen und die Friedenssehnsucht der Interpreten, die als Sprachrohr aller Einwohner fungieren. 

In dieser Zeit war das Schreiben und Publizieren von Musik für die ukrainische Songwriterin Khrystyna Solovij “das einzige”, was sie als Künstlerin tun konnte. Somit dokumentierten Kunstschaffende durch die Inhalte ihrer Musik, durch die Wahl ihrer Sprache und durch die Prägung ihrer Melodien zwangsläufig die Geschichte ihres Landes und werden jetzt darum gebeten, dieses weiterhin zu tun. 

Die Macht der Musik

Noch am 22. Februar 2022, mitten in der ukrainischen Hauptstadt, schlossen die Mitglieder der Kultband Okean Elzy ein Akustik-Set unter dem Motto “Wir halten zusammen!” mit ihrem Song “Alles wird gut” ab. Ausgestattet mit zwei Gitarren und einem Tambourine wollten sie mit Straßenmusik die Laune ihrer Mitbürger heben.

Mittlerweile meldet sich Frontsänger Sviatoslav Vakarchuk, der sich seit Langem für den Frieden in der Ukraine engagiert, in einer kugelsicheren Weste mit Lageberichten aus den umkämpften Gebieten. 

"Es ist Zeit zu kämpfen, aber man kann auch mit Worten kämpfen", erklärte er im Interview mit Euronews - und mit Musik Zusammenhalt stiften. Davon zeugen in jedem Fall die Zahlen: Am 28. Februar belegten drei Lieder von O.E. die höchsten fünf Plätze der Top 100: Ukraine von Apple Music. Darunter ist das 2005 veröffentlichte Lied "Kampflos" mit der Hookline "Ich gebe nicht kampflos auf"; "Umarme" von 2013 beginnt mit den Zeilen “Wenn der Tag kommt und der Krieg endet”; auf Platz eins liegt "Nicht dein Krieg" aus dem Jahr 2015.

Ukrainische Musikszene unterstützen

Unzählige Musikerinnen bis hin zu Weltgrößen wie Madonna verkünden öffentlich ihre Solidarität mit der Ukraine und leisten Aufklärungsarbeit, etwa durch Reposts. Dadurch können Musikschaffende nicht nur Betroffene emotional unterstützen, sondern auch, dem Beispiel ukrainischer Stars folgend, zu dem weltweit verstreuten (russischen) Publikum durchdringen.

Natürlich kann die ukrainische Musikszene weiterhin aus dem Ausland heraus durch Streaming unterstützt werden. Zusätzlich können über Bandcamp direkte Spenden an Artists und Label aus der Ukraine übermittelt werden, damit sie die Einnahmen unmittelbar für die benötigten Maßnahmen für ihre Gemeinschaft nutzen. Rock und Metal Bands wie Behemoth und Billy Talent zeigen verschiedene Möglichkeiten, die Ukraine zu unterstützen.

Musikalisch-kreativ unterstützen

Neben dem Verkauf von Merchandise haben Musikschaffende auch die Möglichkeit, auf kreative Weisen Spendengelder für die Ukraine zu erheben. Das russische Label Gost Zvuk veröffentlichte das digitale Album “Stop The War!” mit der Ankündigung, ganze 100 Prozent der Einnahmen aus dem Verkauf der 32 Tracks verschiedener Künstlerinnen an die humanitäre Hilfe für Bedürftige zu spenden:

"Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Wir stehen auf der Seite der Menschen in der Ukraine und fordern ein sofortiges Ende des Krieges. Wir verurteilen das Vorgehen der russischen Regierung."

⇒ Ihr wollt ukrainische Musiker unterstützen? Hier findet Ihr eine Liste ukrainischer Acts bei Bandcamp. Wenn ihr weitere Hilfsmöglichkeiten, Projekte und Aufrufe kennt, sagt es uns in den Kommentaren!

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