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Der Musikant mit Taschenrechner in der Hand

Stellt künstliche Intelligenz eine finanzielle Bedrohung für Musikerinnen und Musiker dar?

Spezial/Schwerpunkt von Florian Endres
veröffentlicht am 03.02.2023

künstliche intelligenz

Stellt künstliche Intelligenz eine finanzielle Bedrohung für Musikerinnen und Musiker dar?

© Possessed Photography via Unsplash

Mit Launch des Chatbots ChatGPT ist das Thema künstliche Intelligenz erneut in aller Munde: KI-Tools sind nicht mehr bloß unterhaltsame Kuriositäten, sondern produzieren beeindruckende Ergebnisse. Doch was sind die möglichen Auswirkungen von KI für die Musikindustrie – und welche (finanziellen) Folgen könnten die aktuellen Entwicklungen für Musiker/innen haben?

Bei ChatGPT handelt es sich um ein von Open AI veröffentlichtes KI-Tool, das Fragen beantworten und Texte nach den Wünschen der User generieren kann. Dazu sind keine komplexen Befehle notwendig; die Software kann in Textform eingegebene Aufforderungen auf intelligente Art und Weise "lesen" und ausführen. 

Ein williger Diener

ChatGPT generiert bereits jetzt Texte auf derart hohem Niveau, dass Schulen und Universitäten eine Welle KI-generierter Hausaufgaben und Abgaben befürchten und erste (Online-)Redaktionen schon wegen nicht als solcher gekennzeichneter, KI-geschriebener Newstexte am Pranger stehen.

Im Hinblick auf die hohe Qualität der produzierten Texte und den intelligent anmutenden Verknüpfungen von Quelldaten, zu denen ChatGPT in der Lage ist, verwundert es nicht, dass Tatiana Cirisano von der Musikbusiness-Website MIDiA in der Software ein zumindest grundlegend nützliches Tool gerade für Indie-Musikerinnen und -Musiker sieht:

ChatGPT könne, so Cirisano, aufstrebenden Künstler/innen bei Routine-Arbeiten wie dem Verfassen von Promo-Texten unterstützen. Die Texte stellten eine äußerst brauchbare Grundlage dar, die die Artists dann ganz nach ihren Wünschen anpassen könnten. So sparten sie nicht nur wertvolle Zeit, sondern auch die Kosten, die Externe für derartige Arbeiten verlangten.

Rasender Fortschritt

Auch Inspiration für kreative Promotion-Kampagnen kann ChatGPT laut Cirisano bereits liefern: Wenngleich das Ergebnis nachjustiert werden müsse, liefere die KI auf Basis einfacher Texteingaben hinreichend inspirierende Ergebnisse für die Musikpromotion gerade kleinerer Künstlerinnen und Künstler.

Die Software WaveAI geht hier sogar noch einen Schritt weiter und geriert sich als "Assistent" für das Verfassen von Lyrics – mit kontextabhängig generierten Vorschlägen für Reime und ganze Zeilen sowie einem intelligent agierenden Reimfinder soll das Tool bereits jetzt gerade in der Rap-Szene äußerst beliebt sein.

Die Angst vor dem Anderen

Das Team von DIY Musician, dem DIY-Blog der Indie-Distribution CD Baby, betont in einem aktuellen Podcast nicht nur die zahlreichen Verwendungsmöglichkeiten von KI für organisatorische Zwecke, sondern schlägt Artists gar vor, ihr Albumcover per Software designen zu lassen – der Musiker Lil Yachty hat ein solches Album mit KI-Cover mit seinem Anfang 2023 erschienenen "Let’s Start Here" bereits vorgelegt. 

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass KI-Tools – gerade auch im Hinblick auf ihre leichte Benutzbarkeit und Zugänglichkeit – für Verunsicherung in zahlreichen Berufsfeldern sorgen. Werbetexter/innen, Designer/innen oder sogar Softwareentwickler/innen fürchten, dass künstliche Intelligenzen in naher Zukunft ihre Jobs übernehmen könnten und fordern, KI bereits jetzt stärker zu regulieren.

Ein konkreter Fall

Auch für Musikerinnen und Musiker ist die Frage relevant, ob – und wie – die konsequente Weiterentwicklung und Verbreitung von Software auf KI-Basis sich auf ihre ganz persönliche Zukunft auswirken wird. In diesem Zusammenhang ist die Meldung von Interesse, dass mehrere Musikstreamingdienste wie die diversen zum chinesischen Unternehmen Tencent gehörenden Services aktuell mit KI-generierter Musik experimentieren.

Von Seiten Tencents heißt es, das Unternehmen habe bereits über 1.000 Songs mit KI-generierten Vocals produziert und auf der eigenen Plattform zur Verfügung gestellt.

Wenngleich nicht bekannt ist, ob die Songs vollständig KI-generiert sind oder ob lediglich die Stimme per Computer produziert wurde, ist doch hervorzuheben, dass die imitierten Vocals immerhin so gut sind, dass einer der betreffenden Songs laut Tencent bereits über 100 Millionen Streams generiert haben soll.

Übertrumpft

Die arabische Streaming-Plattform Anghami will Tencent nach eigener Aussage sogar übertroffen haben: Die Plattform, die sich primär auf die MENA-Region fokussiert und dort als Spotify-Rivale gehandelt wird, gibt an, bereits jetzt über 200.000 KI-generierte Songs zum Streaming anzubieten, entstanden in der Kooperation mit der Plattform Mubert.

Ein Einsatzgebiet dieser Kooperation war die Erstellung von individuellen "Jubel"-Songs für die in Katar stattfindende WM: Die Nutzerinnen und Nutzer von Anghami konnten das favorisierte Team auswählen, und die App erstellte daraufhin mithilfe von Mubert einen Song, der den eigenen Hörgewohnheiten entspricht.

Auch der TikTok-Mutterkonzern ByteDance zeigt sich aktiv im Bereich KI: Neben der Akquise des Start-ups Jukedeck, mit dem lizenzfreie Hintergrundmusik für von Nutzerinnen und Nutzern hochgeladene TikToks generiert werden kann, hat das Unternehmen u.a. Mawf gelauncht, das per KI Instrumente imitieren kann und bereits als VST für zahlreiche DAWs verfügbar ist.

Das ewige Thema

Diese Meldungen zeigen, dass sowohl die Technologie als auch die Bereitschaft von Tech-Unternehmen, diese tatsächlich auch zu nutzen, bereits existieren. Doch was wären die Folgen einer sprunghaften Verbreitung von KI-Tools im Bereich Musikstreaming?

Neben möglichen kreativen Implikationen, die wir in einem weiteren Artikel ausführlich besprechen wollen, ist eine der besorgniserregenden möglichen Entwicklungen im Zuge der zunehmenden Verbreitung von künstlicher Intelligenz, dass diese tatsächlich zu finanziellen Einbußen für Musikerinnen und Musiker führen könnten.

Nach dem sogenannten Pro Rata-Modell, das fast alle großen Streamingdienste derzeit anwenden, werden die Abo-Gebühren, die die Nutzerinnen und Nutzer der Plattformen zahlen, abzüglich der Service-Gebühren für den Dienst selbst, in einem großen Topf gesammelt und dann anteilig nach der Zahl der Song-Wiedergaben als Tantiemen ausgeschüttet.

Reale Probleme

Konkret bedeutet das, dass die Künstlerinnen und Künstler eben nicht direkt pro Wiedergabe ihrer Songs entlohnt werden (das wäre bei der Alternative, dem sogenannten User Centric Payment System der Fall), sondern die Höhe der ausgeschütteten Tantiemen davon abhängt, wie oft ihre Songs im Verhältnis zu allen anderen Songs auf der Plattform gestreamt wurden.

Dies bedeutet wiederum, dass eine "künstliche" Vergrößerung des von Streaming-Plattformen angebotenen Songkatalogs etwa durch algorithmisch generierte Songs einen empfindlichen Einfluss auf die Höhe der Tantiemen haben könnte, die an "reale" Künstler/innen gezahlt werden.

Dass es sich bei der Einschränkung des Musiker/innen-Einkommens durch den sich ständig vergrößernden Songkatalog der Streamingdienste bereits jetzt um ein reales Problem handelt, zeigt nicht zuletzt die Neujahrsbotschaft des Universal Music-CEO Lucian Grainge. In dieser kritisiert er explizit die immense Zahl von

"31 Sekunden-Songs, die hochgeladen werden und deren einziger Zweck es ist, das System auszutricksen und Tantiemen abzuzweigen. Diese Songs sorgen nicht nur für ein weniger erfüllendes Erlebnis für Verbraucher/innen, sondern führen auch zu geringeren Auszahlungen für die Artists, die die Geschäftsmodelle der Plattformen vorantreiben."

Der Greuel

Grainge meint hier in erster Linie sogenannte "Utility Music", also etwa weißes Rauschen oder Naturgeräusche: Sounds, die, ob zur Erleichterung von Tinnitus oder als Hilfe beim Einschlafen, stetig an Popularität auf Streamingplattformen gewinnen und sich durch ihren Mangel an Struktur auch perfekt in 31-Sekunden-Schnipsel zerlegen lassen – die Zeitspanne, ab der Streams von den Diensten auch tatsächlich bezahlt werden.

Dass derartige Utility Music leicht algorithmisch erzeugt wird, ist schon jetzt Realität. Die Entspannungs-App Endel hat daraus sogar ein Geschäftskonzept entwickelt: Endel generiert Hintergrundmusik für verschiedene Situationen – Entspannen, Konzentrieren, Einschlafen oder Bewegen –, individuell angepasst durch individuelle Umgebungsvariablen wie Tageszeit, Wetter, oder Pulsschlag.

2019 wurde die App von Warner unter Vertrag genommen; zum aktuellen Zeitpunkt hat der Künstler "Endel" fast 100 Alben und Singles von dem auf Streamingplattformen veröffentlicht. Die Tantiemen für die Wiedergaben dieser Songs teilen sich mutmaßlich zwischen Warner und dem Unternehmen Endel auf – eine Künstlerin bzw. ein Künstler ist hier gar nicht mehr involviert.

Naheliegend

Wie zuletzt die Washington Post richtig feststellte, ist der aktuelle Zustand der Streaming-Ökonomie – darunter allen voran der eigentliche Platzhirsch Spotify – alles andere als rosig: Trotz seiner immensen Popularität ist es kaum möglich für die Dienste Profit zu generieren:

Die Kundinnen und Kunden erwarten beim Musikstreaming eine bestimmte "Grundversorgung", einen (verhältnismäßig großen) Katalog, den die Streamingplattformen alle bereitstellen müssen, und den sich Major- und Indie-Labels sowie Musikverlage entsprechend bezahlen lassen.

Da die Plattformen von diesem Angebot kaum abweichen können, ohne zu riskieren, Kund/innen zu verlieren, liegt der Gedanke nahe, die aktuellen Auszahlungsverhältnisse eben durch eigene KI-generierte und lizenzfreie Musik zu verschieben.

Wo für die Musik von Endel immerhin noch App-Entwickler und Labels bezahlt werden müssen, wären von Spotify und Co. selbst zur Verfügung gestellte Songs für diese kostenlos und würden im besten Fall gleichzeitig dafür sorgen, dass weniger Streams auf lizenzierte Songs entfielen.

Ein Schreckensszenario

Ein mögliches (Schreckens-)Szenario für Musikschaffende, das mit der zunehmenden Verbreitung (und Qualitätssteigerung) künstlicher Intelligenz also gleichsam wahrscheinlicher wird, wäre das gezielte Lancieren von selbst durch "eigene" künstliche Intelligenz erzeugten Songs.

Die Möglichkeiten für eine derartige, künstliche Verbreitung der eigenen Lückenbüßer haben die Streaming-Services dabei bereits an der Hand – ihre auch bereits von Lucian Grainge kritisieren Empfehlungs-Algorithmen, die laut dem Universal-CEO die User "zunehmend von Algorithmen zu funktionalen Inhalten geringerer Qualität geleitet werden, die in einigen Fällen kaum als 'Musik' durchgehen" würden.

Ein Song im Schafspelz

Das Perfide ist, dass – siehe das Beispiel Endel – vom Streamingdienst selbst ausgestreute KI-generierte Musik nicht einmal sonderlich gut oder herausragend sein, sondern lediglich einem spezifischen Zweck dienen müsste.

Ob als Hintergrundmusik für Meditation, als Soundtrack zum Bücherlesen oder als Einschlafhilfe. Solange ein KI-generierter Sound nur für 31 Sekunden gestreamt wird und damit als vollwertiger Stream zählt, geht das Konzept auf.

Der Siegeszug der Utility Music hat parallel zur stetigen Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz eine Nische für die Musik herausgearbeitet, in der die Produkte dieser KI einen Nährboden gefunden haben.

Nicht das Ende

Wenngleich es im Hinblick auf die höheren Anforderungen populärer Musik – definierte Struktur, Melodie und im weitesten Sinne "sinnvolle" Vocals – durchaus schwieriger ist, diese algorithmisch zu erzeugen, zeigen die Investitionen etwa von Tencent, Anghami und TikTok in Technologien im Bereich der Synthese von Sprache und Instrumenten.

Die Formelhaftigkeit von populärer bzw. insbesondere Pop-Musik böte zumindest ein relativ festes Korsett, in dem eine KI entsprechende Variationen erzeugen könnte; existierende Userprofile können dabei außerdem handfeste Informationen zu den Präferenzen der Nutzenden liefern – derart, wie bereits Anghami die eigenen Fußball-Songs an die Hörgewohnheiten anpasst.

Die seit langem bestehende Debatte über die Vergütung von Musikern durch Streaming-Dienste ist dadurch noch komplizierter geworden. Wie soll ein System funktionieren, indem KI-generierte Musik "echte" Künstler immer mehr an die Wand drängt?

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