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Spezifische Gefahren für Kulturschaffende

Depressionen bei Musikern und Künstlerinnen: Ursachen und Lösungsansätze

Tipps für Musiker und Bands von Jochen Stien
veröffentlicht am 02.10.2020

gesundheit depressionen berufswelt

Depressionen bei Musikern und Künstlerinnen: Ursachen und Lösungsansätze

Jochen Stien (Psychotherapeut und Musiker). © Markus Uhrig

Depressionen sind ein großes, allgegenwärtiges, weltumspannendes und zeitloses Thema. Sie machen auch vor Musikschaffenden nicht halt. Wie können Musiker/innen Risiken mindern, eigene Symptome erkennen und welche Auswege gibt es? Jochen Stien ist Psychotherapeut und Musiker und führt seit 2011 eine kassenzugelassene psychotherapeutische Praxis in Mannheim. Er blickt auf typische Ursachen dieser psychischen Erkrankung und mögliche Maßnahmen für den Weg heraus.

Nicht nur die sehr prominenten Fälle, die sogar mit Selbsttötung endeten wie Chris Cornell, Chester Bennington, Kurt Cobain, Avicii oder in Deutschland zuletzt Stephan Ullmann und viele andere mehr machen betroffen und rufen das Thema Depression immer wieder ins Gedächtnis.

Aber was ist eine Depression überhaupt?

Im Volksmund wird der Begriff Depression irreführenderweise sehr schnell benutzt, schon zum Beispiel bei Traurigkeiten, alltäglichen Stimmungsschwankungen oder auch Enttäuschungen.

Tatsächlich handelt es sich dabei allerdings um eine reinrassige psychische Erkrankung, mit definierbarer Symptomatik, verschiedenen Formen und Verläufen. Und sie bedarf einer fachlichen Behandlung.

Und wie erkennt man sie?

Laut internationaler Kriterien müssen für mindestens 2 Wochen mindestens 2 Hauptsymptome und 2 Zusatzsymptome auftreten.

Hauptsymptome

  • gedrückte Stimmung
  • Interessen- oder Freudlosigkeit
  • Antriebsmangel bzw. erhöhte Ermüdbarkeit

Zusatzsymptome

  • verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
  • vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit
  • negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
  • Suizidgedanken/-handlungen
  • Schlafstörungen
  • verminderter Appetit

Die Diagnose sollte dabei von Fachleuten (Hausarzt, Psychiater, Psychotherapeut) gestellt werden.

Man unterscheidet die sogenannte depressive Episode (bei einmaligem Auftreten) sowie die rezidivierende (wiederkehrende) depressive Störung. Die Dauer ist nicht vorhersehbar und bewegt sich zwischen wenigen Wochen bis zu mehreren Monaten, bei schweren chronischen Verläufen auch über mehrere Jahre. Des Weiteren gibt es mehrere Mischformen und randständige oder verwandte Erkrankungen (genauer: Störungen mit Krankheitswert), auf die hier an dieser Stelle jetzt nicht genauer eingegangen werden soll.

Große Anzahl Betroffener

Eine Depression ist nicht selten. Innerhalb eines Jahres erkranken laut größtenteils übereinstimmender wissenschaftlicher Studien in Deutschland 8-12%, das bedeutet ca. 5-6 Millionen Menschen. Über das gesamte Leben hinweg sind ca. 20% betroffen, dabei Frauen ungefähr doppelt so oft wie Männer.

Ca. 10.000 Menschen nehmen sich pro Jahr in Deutschland selbst das Leben. Dies sind mehr als die Verkehrstoten, Drogentoten und AIDS-Toten zusammen. Der überwiegende Teil davon sind Männer. Die Zahl der Versuche ist ca. 15-20x so hoch.

Die Fallen für Musiker

Warum sind Depressionen nun bei Musikern oder Künstlerinnen allgemein ein besonders beachtenswertes Thema? Hierzu gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Folgende Faktoren kommen häufig kumulativ zusammen und bilden dann eine Risikokonstellation:

  • Existenzielle Sorgen: Die allermeisten Musiker habe keine Hits in den internationalen Charts oder eine Festanstellung im Orchester. Sie leben von Tour zu Tour, von Studiojob zu Studiojob, von Mucke zu Mucke. Einige können wenigstens durch einigermaßen regelmäßigen Unterricht eine gewisse Berechenbarkeit herstellen.
  • Kreative Löcher: Musiker sind meist angewiesen auf neue Ideen, sprudelnde Phantasie und ständigen Output. Dies lässt sich allerdings nicht erzwingen oder abarbeiten, sondern kommt phasenweise, oder bleibt eben auch mal aus.
  • Selbstansprüche: Meist haben Musiker und Künstler sehr hohe Erwartungen an sich selbst. Geht nicht gibt’s nicht.
  • "Intensive Persönlichkeiten": Nicht selten sind kreative Menschen auch in anderen Bereichen ausgeprägter als der Durchschnitt, zum Beispiel bei der Lebensfreude, der Beziehungsgestaltung, aber auch der Selbstkritik und der nicht-fürsorglichen Selbstausbeutung.
  • Suche nach Anerkennung und Applaus: Dies braucht jeder Musiker wie die Luft zum Atmen. Ein Konzert ohne Publikum ist keins, eine CD ohne Hörer nichts wert.
  • Input, Output: Eine gute Balance zwischen Selbstfürsorge und Verausgabungsbereitschaft ist häufig nicht ausreichend gegeben.
  • Strukturlosigkeit: Der Alltag hat oft wenig oder gar keinen Rhythmus, kaum ein Tag ist wie der andere. Teilweise wechseln sich extreme Phasen ab, zum Beispiel von einer Tournee zum Loch danach.
  • Abwesenheit: Vor allem Live-Musiker arbeiten im Freizeitbereich, wenn andere Leute frei haben und feiern, gehen sie zu Werk. Dadurch verringern sich die eigenen Sozialkontakte, auch ein übliches Familienleben wird dadurch erheblich erschwert
  • Alkohol, Drogen: Sind für viele Musiker oft allgegenwärtig und verfügbar. Sie erscheinen häufig als probates Mittel manche Zustände zu verdecken und sind scheinbare (!) Hilfen bei so manchen Problemen. Manchmal aus Lust, oder aus Frust.
  • Allgemeine Probleme: Zu guter Letzt haben natürlich auch Musiker all die Probleme die andere Menschen auch haben, Beziehungsprobleme, Sorgen und Nöte, Verluste, gesundheitliche Einbußen etc.

Wer für sich selbst auf diese Punkte achtet und Warnzeichen früh ernst nimmt, verringert das Risiko, an einer Depression zu erkranken.

Was tun?

Das Wichtigste zuerst: Depressionen sollte man ernst nehmen! Sie sind wie beschrieben eine ernsthafte Erkrankung und sie können bei Nichtbehandlung zu schwerwiegenden Folgen führen.

In der Praxis kommt eine Überschätzung praktisch nicht vor, die Unterschätzung ist allerdings die Regel. In vielen Fällen suchen die Betroffenen erst nach mehreren Jahren ein fachgerechte Behandlungsmöglichkeit auf.

Es ist weiter ratsam sich zu offenbaren. Zunächst im engsten Umfeld, der Familie, der Freunde. In der Regel wird man viel mehr Verständnis und Zuspruch erleben als man vielleicht befürchtet, außerdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass man aufgrund der Vielzahl von Betroffenen sogar erlebt, dass das Gegenüber die Problematik bereits kennt, entweder persönlich oder aus dem Umfeld. Depressionen sind keine Schande!

Der nächste Schritt wäre das Ratsuchen. Das Internet ist hier mit äußerster Vorsicht zu genießen, es empfiehlt sich stattdessen zunächst eine Person des eigenen Vertrauens. Geteiltes Leid ist halbes Leid! In den allermeisten Fällen wird man Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Maßnahmen finden.

Letztendlich sollte unbedingt eine professionelle Behandlung in Anspruch genommen werden. Wie bei allen wichtigen und relevanten Themen sollten hier Fachleute hinzugezogen werden, die Behandlungsmöglichkeiten sind immens und meist sehr gewinnbringend, mindestens lindernd und sehr oft sogar remittierend, das bedeutet das gänzliche "Heilen" der Erkrankung!

Professionelle Maßnahmen

Der allererste Ansprechpartner ist meist die Hausärztin oder der Hausarzt. Zu ihr oder ihm besteht in der Regel ein langjähriges Vertrauensverhältnis, und man kann getrost davon ausgehen, dass dort eine ausreichende Erfahrung mit der Erkrankung besteht und meist auch direkt der Kontakt zu weiteren Behandlern hergestellt und zusätzliche Empfehlungen ausgesprochen werden können.

Bei Unsicherheiten könnten die niedrigschwellig erreichbaren lokalen Beratungsstellen in Anspruch genommen werden, die einen durch den oft als Dschungel der vielfältigen Möglichkeiten wahrgenommenen Wust an Angeboten lotsen können.

Nahezu in jedem Fall ist eine Psychotherapie die Methode der Wahl. Dort wird sehr individuell betrachtet welche Faktoren die entsprechende Situation ausgelöst oder begünstigt haben, wobei meist nicht nur die aktuelle Befindlichkeit, sondern "das große Ganze" in den Blick genommen wird.

Es geht dann nicht nur um die Beseitigung von Problemen, sondern auch um die Stärkung von Ressourcen. Üblicherweise ist eine Psychotherapie ein anstrengender, aber insgesamt sehr lohnenswerter Prozess.

Durch moderne Medikamente, die entweder der Hausarzt oder der Psychiater verordnet, können oft Linderungen erreicht werden, die weitere nachhaltige Veränderungen häufig erst ermöglichen. Es steht eine ganze Menge von Substanzen und Substanzgruppen zur Verfügung, so dass man recht individuell entscheiden kann womit der beste Nutzen im Einzelfall erzielt werden kann. Die Nebenwirkungen sind in der Regel gut überschaubar und auch beeinflussbar.

Üblicherweise werden die medikamentöse und die psychotherapeutische Behandlung miteinander kombiniert, die verspricht in vielen Fällen den nachhaltigsten Erfolg. Die Entscheidung liegt aber selbstverständlich ganz alleine beim Patienten. Sehr viele Patienten berichten davon, dass sie aus ihrer persönlichen Krise sogar gestärkt hervorgehen und fühlen sich den Aufgaben des Lebens mehr gewachsen als vor der Depression.

Symptome ernst nehmen

Depressionen sind eine ernstzunehmende Erkrankung. Musiker und Künstler können durch besondere Risikokonstellationen in spezieller Weise davon betroffen sein.

Es empfiehlt sich die Symptome ernst zu nehmen, sich vertrauten Personen zu öffnen und Rat zu suchen. Oft ist diese Störung gut behandelbar, mit Medikamenten, Psychotherapie oder einer Kombination aus beidem.

Es lohnt sich! Für ein zufriedenes, gesundes und auch kreatives (Musiker-) Leben!

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