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"Jetzt ist die beste Chance zu spielen"

Gavin Harrison (The Pineapple Thief) über die pandemiebedingten Risiken einer internationalen Tour

Interview von Michael Erle
veröffentlicht am 26.10.2021

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Gavin Harrison (The Pineapple Thief) über die pandemiebedingten Risiken einer internationalen Tour

Gavin Harrison (2021). © Lidschlag Fotografie

Gavin Harrison, der auf eine lange Musikerkarriere zurückblickt (u.a. Porcupine Tree und King Crimson), sprach mit uns während der laufenden Tournee von The Pinapple Thief über die bestehenden Herausforderungen im Live-Geschäft aufgrund der Corona-Pandemie.

Backstage PRO: Gavin, deine aktuelle Prog-Rock-Band The Pinapple Thief hat seit ihrer Gründung 1999 zahlreiche Alben veröffentlicht und Touren absolviert. Wie kamt ihr während der Corona-Pandemie zurecht?

Gavin Harrison: Es es immer noch schwierig. Im Vereinigten Königreich erhält man als Selbstständiger keinerlei Hilfe von der Regierung – im Gegensatz z.B. zu den Leuten, die im Büro arbeiten und das von der britischen Regierung 2020 eingeführte Job Retention Scheme [dem deutschen Kurzarbeitergeld nachgebildetes Programm der britischen Regierung, Anm. d. Redaktion] in Anspruch nehmen konnten.

Einige Büroangestellte waren von März 2020 bis September 2021 beurlaubt, während die selbständigen Musiker in dieser Zeit keine Einnahmen hatten, keinen Pfennig. Es ist klar, dass zumindest die britische Regierung sich nicht um Selbstständige kümmert, vor allem nicht um Künstler. Der Finanzminister sagte sogar: "Ich schlage vor, Sie schulen um." – Toll, danke! Wir mussten viele Tourneen für das Jahr 2020 absagen und verlegen, nur um sie dann erneut abzusagen und zu verlegen – nicht nur mit The Pineapple Thief, sondern auch mit King Crimson. 

Backstage PRO: Du warst ab August 2021 mit King Crimson auf Tour. Hast du einen Unterschied zur Zeit vor Corona bemerkt?

Gavin Harrison: Ich bin mit King Crimson sechs Wochen lang durch die USA getourt. Dort lagen die Zuschauerzahlen bei ca. 50-80 Prozent der normalen Zahlen, je nachdem, in welchem Bundesstaat wir aufgetreten sind. In Europa, wo ich mit The Pineapple Thief unterwegs war, haben wir allerdings sogar vor mehr Leuten gespielt als noch vor zwei Jahren.

Backstage PRO: Wie erklärst du dir das?

Gavin Harrison: Ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass wir beliebter geworden sind, oder dass die Leute unbedingt wieder Live-Bands sehen wollen. Ich hatte mir zumindest vorgestellt, dass unsere Auslatung nur bei ca. 50 Prozent der Besucher liegen würde.

Man muss aber auch sagen, dass an den jeweiligen Abenden der Tour (in Europa) gut 15 Prozent der Leute nicht kamen. Sie haben ein Ticket gekauft und kamen nicht, weil es ihnen vielleicht doch zu riskant erschien. In Amerika waren es sogar eher 20 Prozent, die trotz gekauftem Ticket nicht erschienen. 

“Zwei Wochen vor Beginn der Tour wussten wir schon, dass wir 20.000 Euro verlieren würden”

Backstage PRO: Als Band seid ihr ein Unternehmen. Wie geht ihr mit The Pineapple Thief mit dieser Art von wirtschaftlichem Risiko um? Ihr plant eine Tournee und könnt die Besucherzahlen nicht wirklich vorhersagen, und ihr wisst nicht, ob es sich überhaupt auszahlt.

Gavin Harrison: Zwei Wochen vor Beginn der Tour wussten wir schon, dass wir 20.000 Euro verlieren würden. Viele Bands werden es sich nicht leisten können, so viel Geld zu verlieren, besonders nachdem sie 18 Monate lang nicht gearbeitet haben. Die Band trägt nämlich das finanzielle Risiko. Wenn du eine vierköpfige Band bist und die Band 20.000 Euro verliert, dann werden 5.000 Euro von deinem Bankkonto abgezogen, um die Tour zu bezahlen. Nicht viele Leute wollen vier Wochen lang arbeiten gehen, um am Ende 5.000 Euro aus ihrem eigenen Bankkonto zu bezahlen – also, ja, es gibt definitiv ein Risiko.

Backstage PRO: Wie gehst du mit dem Risiko um?

Gavin Harrison: Natürlich konnten wir nicht genau vorhersagen, wie viele Leute kommen würden und ob wir mehr Geld als die Garantie bekommen würden. Wie ihr wisst, bekommt man bei einem Konzert eine Garantie bis zu einer bestimmten Zahl, das können 70 oder 80 Prozent sein, und ab 80 Prozent gibt es den so genannten Überschuss. 

Man kann also deutlich mehr Geld bekommen, wenn das Konzert ausverkauft ist. Aber es war unwahrscheinlich, dass wir ausverkaufen würden. Ich glaube, heute Abend [wir treffen Gavin in München, Anm. der Red.] ist das Konzert ausverkauft.

Andere sind fast ausverkauft, wieder andere sind nur aufgrund von Beschränkungen ausverkauft. In Amsterdam fasst die Halle 1.800 Zuschauer, aber die holländische Regierung hat gesagt: "Ihr dürft nur 1.200 Besucher haben". Ich glaube, wir haben es auf 1.150 gebracht, was ziemlich gut ist. Ich weiß nicht, ob wir mehr als 1.150 bekommen hätten, wenn es keine Beschränkung gegeben hätte, vielleicht wäre der Saal ja voll gewesen.

"Ist es dein Leben wert, auf Tournee zu gehen?"

Backstage PRO: Wie geht ihr auf Tour mit Corona um?

Gavin Harrison: Natürlich stellt es ein Risiko dar, gerade auf Tour zu gehen und nicht nur zu Hause zu bleiben. Wenn einer aus der Crew sich Covid einfängt, OK, vielleicht finden wir Ersatz. Aber wenn sich einer der Jungs in der Band ansteckt, ist das eine Katastrophe und die ganze Tour gerät in Gefahr. 

Backstage PRO: Welche Gegenmaßnahmen ergreift ihr?

Gavin Harrison: Wir testen viel, wir haben uns heute alle testen lassen, um möglichst sicher zu sein. Denn neben dem finanziellen Risiko besteht natürlich auch ein gesundheitliches: Obwohl wir alle doppelt geimpft sind, weiß man nicht, ob man zu den Leuten gehört, die selbst bei doppelter Impfung mit einem Beatmungsgerät im Krankenhaus landen und sterben. Ist es dein Leben wert, auf Tournee zu gehen?

The Pineapple Thief (2021)

The Pineapple Thief (2021), © Lidschlag Fotografie

Backstage PRO: Was hat Dich überhaupt dazu bewogen, die Tournee durchzuziehen? War es die Chance, als Erster wieder auf dem Markt zu sein?

Gavin Harrison: Wir sind eine der ersten Bands, die zurückkommen – weil dies die beste Chance ist, spielen zu können. Du weißt, dass man eine Tour neun Monate im Voraus buchen muss. Wir mussten die Termine jetzt wahrnehmen, da wir unsere Termine nicht einfach verschieben können – es gibt in der kommenden Zeit nämlich keine freien Hallen mehr. In München oder Amsterdam oder London kommt man an einem Samstagabend vielleicht ein Jahr lang nicht rein.

Wenn wir die Tour absagen würden, wären 2022 schon alle Veranstaltungsorte voll. Alle Bands, die darauf gewartet haben, auf Tour zu gehen, sind schon gebucht. Und wir wissen nicht, was mit Covid passieren wird. Es könnte viel besser werden, es könnte viel schlimmer werden. Ich weiß nicht, wie es im nächsten Februar oder März sein wird.

Backstage PRO: Wie ist Ihr Eindruck von der Tournee-Infrastruktur, den Bookern, den Veranstaltungsorten und so weiter? Sind sie genauso erpicht darauf, zurück zu kommen wie ihr, sind sie bereit, die gleichen Risiken einzugehen, oder halten sie sich zurück?

Gavin Harrison: Die Leute vor Ort wollen unbedingt wieder an die Arbeit. Sie sind gelangweilt, weil sie so lange zu Hause gesessen haben. Aber man unterliegt den örtlichen Vorschriften, denen der deutschen Regierung. Ich glaube, die Regel war: "Ihr müsst bestuhlte Konzerte machen, Zuschauer dürfen nicht stehen." Es gibt immer noch einige Einschränkungen, auch heute noch.

Backstage PRO: Wie groß ist der Schaden? Haben viele Locations geschlossen?

Gavin Harrison: Ja, die Leute, die Veranstaltungsorte und PA-Vermietungen betreiben, waren bereits vorher in finanziellen Schwierigkeiten. Das war schon so, bevor Covid kam, wegen des Brexits, der meiner Meinung nach ein kollosales Desaster war. Der größte Fehler, den das Vereinigte Königreich in den letzten 50 Jahren gemacht hat. Vor allem, wenn man im Ausland arbeitet; dann ist es eine Katastrophe.

Die Lage war also bereits schwierig, und ich bin sicher, dass viele Unternehmen, Menschen und Veranstaltungsorte in den letzten 18 Monaten ihr Geschäft aufgegeben haben.

"Live-Musik ist etwas, das ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt"

Backstage PRO: Wie geht es weiter? Wie gut werden sich die Branche und die Kunst erholen?

Gavin Harrison: Ich weiß es nicht, ich kann nicht in die Zukunft sehen. Die Menschen mögen immer Musik, und sie mögen neue Musik und Menschen, die neue Musik machen. Ob das nun auf virtuellem Wege geschieht – im Februar haben wir eine Streaming-Show gemacht, was eine sehr gute Sache war, weil niemand Konzerte spielte.

Es war schön für uns, weil wir etwas tun mussten, weil wir seit über einem Jahr nichts mehr gemacht hatten. Wir haben alle PCR-Tests gemacht, bevor wir geprobt haben, bevor wir gedreht haben. Die Dreharbeiten waren recht erfolgreich, da viele Leute ein Ticket gekauft haben, um den Stream zu sehen, und jetzt wird er als BlueRay mit Interviews, als Album, als Vinyl, als Sonderausgabe herauskommen.

Backstage PRO: Glaubst du, dass das Konzertgeschäft durch Streaming ersetzt werden wird? So wie Bürojobs ins Home Office verlagert werden?

Gavin Harrison: Das glaube ich nicht. Ich glaube, die Leute lieben es, Musik live zu sehen. Sie besuchen gerne ein Konzert. Es ist ein Ereignis, es ist einmalig. Ich schaue mir keine Konzerte im Fernsehen oder per Streaming an. Ich glaube, Live-Musik ist etwas, das ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt – in einem Raum zu sein und Musik zu hören.

Inzwischen nimmt aber jeder zu Hause auf. Wir gehen nicht mehr ins Studio, niemals. So wie früher in den 80er und 90er Jahren, als alle ins Studio gingen und zusammen spielten. Diese Zeiten sind fast vorbei. Und die Studios auch, es gibt nur noch sehr wenige Studios. Die einzigen Studios, die wirklich überlebt haben, waren die großen, die Orchester aufnehmen konnten.

Backstage PRO: Hat dich die Pandemie inspiriert oder frustriert?

Gavin Harrison: Ich weiß es nicht. Ich habe die Zeit zu Hause eigentlich sehr genossen. Von 2014 bis Ende 2019 war ich so viel auf Tour wie nie zuvor in meinem Leben. Und Ende 2019 war ich des Tourens wirklich müde. Deshalb war es sehr schön, ein Jahr zu Hause zu sein. So bin ich eben.

Aber natürlich ist die Pandemie eine menschliche Katastrophe, ein Jahrhundertereignis. Die Zahl der Menschen, die gestorben sind und vielleicht nicht gestorben wären, ist dramatisch hoch. Ich glaube, das Vereinigte Königreich war vielleicht einer der Spitzenreiter; wir hatten im ersten Jahr 140.000 Tote zu beklagen. Das sind eine Menge Menschen, die man verlieren kann. Wenn es deine Familie ist, dein Vater oder deine Mutter oder deine Großeltern, dann ist das wirklich tragisch. Das hat uns wachgerüttelt. Niemand, der heute lebt, hat die Spanische Grippe erlebt. Wir haben alles darüber vergessen. Aber die Chancen stehen gut, dass es wieder passieren wird.

Backstage PRO: Vielen Dank für deine Zeit und alles Gute für die weitere Tour!

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