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Kurze Ausschnitte genügen

Musikerkennungs-Studie: Menschen wissen nach 5 Sekunden, ob ihnen ein Song gefällt

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 28.03.2023

musikpsychologie streaming

Musikerkennungs-Studie: Menschen wissen nach 5 Sekunden, ob ihnen ein Song gefällt

Menschen benötigen nur wenige Sekunden, um zu entscheiden, ob ihnen ein Song gefällt. © Marcelo Chagas via pexels.com

Der Trend, dass Songs aufgrund von Streaming immer kürzer werden, wurde in den letzten Jahren in der Musikszene viel diskutiert. Dass das nicht nur eine Mode ist, sondern menschlichen Wahrnehmungsmustern entgegenkommt, zeigt eine neue Studie aus den USA.

Kein Intro, keine Soli, direkt zum Refrain und eher 2 als 3 Minuten lang. Das ist der typische Streaming-Hit. Eine Mode, könnte man denken. Allerdings gibt es Anzeichen, dass diese Entwicklung im Einklang mit der Art und Weise steht, wie Menschen Musik wahrnehmen und beurteilen.

5 Sekunden reichen aus

Eine Studie von Forschern der New York University (NYU) hat festgestellt, dass Hörern bereits ein Ausschnitt (Sample) von 5 Sekunden genügt, um zu entscheiden, ob ihnen ein Song gefällt. 

Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Sample der Strophe oder dem Refrain entstammt. Die Studie legt daher nahe, dass die Entscheidung, ob ein Lied gefällt oder nicht, nur eine sehr kurze Vorlaufzeit benötigt.

Längere Samples ändern nichts

Besonders bedeutsam scheint die Erkenntnis, dass sich die Meinung der Studienteilnehmer nicht änderte, wenn sie längere Samples von 10 oder 15 Sekunden Länge oder den Song komplett hörten. 

Die Übereinstimmung war so groß, dass es den Forschern nicht gelang, signifikante Unterschiede der Beurteilung in Abhängigkeit von der Dauer der Samples festzustellen. Ob die Studienteilnehmer also ein fünfsekündiges oder ein fünfzehnsekündiges Sample hörten, änderte nichts an der Beurteilung.

"Im Laufe eines Liedes können sich die akustischen Eigenschaften dramatisch ändern, aber das scheint die Zuhörer nicht zu interessieren. Wir entscheiden in 5 Sekunden oder weniger, ob wir einen Song mögen oder nicht", erklärt Pascal Wallisch, Hauptautor der Studie und Associate Professor an der NYU.

Das Studiendesign

Zu diesen Erkenntnissen gelangte die Forschergruppe, indem sie 650 Probanden aus New York City 250 Songs vorspielte, teilweise komplett und teilweise in Ausschnitten. Diese Songs umfassten US-Chart-Hits aus den letzten 80 Jahren sowie Songs aus den Genres Pop, Rock, Country, Jazz, Hip-Hop, Electronic und R&B/Soul.

In dem Experiment wurden die Teilnehmer gebeten, zu bewerten, wie sehr sie ein bestimmtes Lied oder einen bestimmten Clip beurteilen. Dabei standen die Kategorien ''Hasse es'', ''Mag es nicht'', ''Mag es nicht'', ''Gleichgültig'', ''Mag es ein wenig'', ''Mag es sehr'' und ''Liebe es'' zur Verfügung. 

Ebenso sollten die Studienteilnehmer ihre Vertrautheit mit dem Lied oder Clip anhand der Frage beurteilen, wie oft sie ein spezifisches Lied schon gehört haben: ''Noch nie'', ''Einmal'', ''Mehr als einmal'', ''Mehrmals'', ''Häufiger als ich sagen kann''.

Die Reihenfolge spielt nur eine untergeordnete Rolle

Die Forscher untersuchten auch, ob die Reihenfolge des Hörens eine Rolle spielt, genauer gesagt, ob die Beurteilung eines Clips davon abhängt, ob der Proband den kompletten Song gehört hat, wenn er den kurzen Ausschnitt beurteilen soll. 

Dabei stellte sich heraus, dass die Korrelation zwischen den beiden Beurteilungen höher war, wenn der komplette Song bekannt ist, bevor das Sample gehört wurde. Aber selbst wenn die Studienteilnehmer erst das Sample und dann den kompletten Song hörten, bestand eine große Übereinstimmung hinsichtlich der Beurteilungen.

In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass die Übereinstimmung der Beurteilung von Sample und Song am größten war, wenn die Hörer ein Sample der Strophe oder des Refrains erhielten und dann abfiel, wenn das Sample Auszüge des Intros oder Outros enthielt. Allerdings bestanden auch in den letzteren Fällen statistisch signifikante Übereinstimmungen. 

Hörer erkennen nur wenige Lieder

Unter den Musikstücken oder Songs, die die Forscher den Probanden vorspielten, befanden sich auch zahlreiche obskure und wenig bekannte Stücke. Deshalb betrug die Wiedererkennungsquote der Songs und Samples nur 20 Prozent.

Wenn die Studienteilnehmer einen Song wiedererkannten, hatte das direkte Auswirkungen auf seine Beurteilung. Allerdings vermag die Tatsache der Wiedererkennung nicht alle beobachteten Phänomene erklären, so dass die Studienautoren weitere Studien für nötig halten.

Offene Fragen

Künftige Studien könnten die den Studienteilnehmern vorgespielte Musik zumindest in grobe Genres einteilen, um festzustellen, ob sich nachweisen lässt, in welchem Umfang Menschen kognitiv Genre definieren, um Musik einzuordnen und zu beurteilen.

Ebenso wäre zu prüfen, ob die Beurteilung von Musik einen Zusammenhang mit ihrem Entstehungs- oder Veröffentlichungsdatum zeigt, ob beispielsweise Musik aus der Jugend der Studienteilnehmer anders beurteilt wird als aktuelle Musik oder solche, die vor ihrer Geburt entstanden ist.

Eine Forschungslücke?

Bemerkenswerterweise erklären die Autoren der Studie, dass die Frage, wie repräsentativ kurze Samples von Songs für die Beurteilung durch Hörer sind, bisher in der Musikpsychologie kaum eine Rolle spielte. 

Das erstaunt vor allem deshalb, weil solche Samples bei Download- & Streaming-Plattformen eine große Rolle spielen und Entscheidungen über die Länge dieser Samples nicht unbedeutend sind.

Die Ergebnisse der Studie legen aber nahe, dass die Länge der Samples auf solchen Plattformen mehr als ausreichend zur Beurteilung ist und dass längere Samples keinen besseren Eindruck bieten oder eine veränderte Beurteilung bewirken würden.

Audio-Streaming und Musikgeschmack

Mehr noch; es scheint, dass Streaming-Plattformen mit ihren automatisch generierten Playlists sowie Empfehlungsalgorithmen und ihren zugrundeliegenden, schier unerschöpflichen Musikbibliotheken perfekt auf die Art und Weise zugeschnitten sind, wie Menschen Musik wahrnehmen: Gefällt ein Song nicht, kann er nach nur wenigen Sekunden übersprungen werden - der nächste Song steht schon in den Startlöchern. 

Die Studie legt also nahe, dass der Trend nach kürzeren Songs, die direkt auf den Punkt kommen und auf Intros verzichten, menschlichen kognitiven Wahrnehmungsmustern entgegenkommt, und nicht etwa nur eine dem Streaming geschuldete Mode darstellt. Ob das aber tatsächlich so ist, müssen weitere Studien ergeben.

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