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Ein Fall mit Wirkung

Was bedeutet die Einstellung der Ermittlungen gegen Till Lindemann für Medien und Konzertbranche?

Spezial/Schwerpunkt von Backstage PRO
veröffentlicht am 05.09.2023

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Was bedeutet die Einstellung der Ermittlungen gegen Till Lindemann für Medien und Konzertbranche?

Till Lindemann. © Peter H. Bauer

Die Berliner Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann wegen des Verdachts des Begehens von Sexualdelikten und möglicher Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz eingestellt. Was sind die Folgen für die Konzertbranche?

Nach Vorwürfen verschiedener Frauen und anschließender Medienberichte von Spiegel, NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung hatten unbeteiligte Dritte Till Lindemann angezeigt. Die Berliner Staatsanwaltschaft leitete daraufhin Ermittlungen ein.

Hintergrund waren Berichte über ein "perfides Castingsystem", durch das Lindemann im Rahmen von Rammstein-Konzerten vor allem junge Frauen für Sex zugeführt werden sollten. 

Kein hinreichender Tatverdacht

Am 29. August gab die Staatsanwaltschaft Berlin in einer Pressemitteilung bekannt, dass die "Auswertung der verfügbaren Beweismittel" keine Anhaltspunkte für den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe biete.

Bei diesen ausgewerteten Beweismitteln handelte es sich vor allem um Medienberichte. Die Staatsanwalt gab bekannt, mutmaßliche Geschädigte hätten sich bislang nicht an sie gewandt, sondern "ausschließlich – auch nach Bekanntwerden des Ermittlungsverfahrens – an Journalistinnen und Journalisten, die sich ihrerseits auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen haben". 

Aus diesem Grund gäbe es keine Möglichkeit, etwaige Tatbestände zu konkretisieren oder einen "Eindruck der Glaubhaftigkeit" der Geschädigten zu bekommen.

Auch die öffentliche Vorwürfe der Youtuberin Kyla Shyx, die von ihren eigenen Beobachtungen auf einem Rammstein-Konzert berichtete, selbst allerdings "kein eigenes Erleben strafrechtlich relevanter Vorfälle" schildern konnte, hält die Staatsanwaltschaft für zu wenig konkret:

"Die von ihr geschilderten Umstände stellten entweder Rückschlüsse aus Beobachtungen dar oder sind ihr von anderen geschildert worden. Andere von der Zeugin benannte Personen sollen entweder nichts strafrechtlich Relevantes beobachtet haben oder wurden nicht hinreichend identifizierbar benannt."

Die Presseberichterstattung über den sexuellen Missbrauch an einer 15-Jährigen kann ebenfalls nicht verwertet werden, da die Betroffene anonym bleibt. Das Verfahren gegen die "Casting-Managerin" Alena Makeeva wurde ebenfalls eingestellt.

Till Lindemann reagierte auf die Einstellung, indem er sich in einer Instagram Story bei allen bedankt, die "unvoreingenommen das Ende der Ermittlungen abgewartet haben". Seine Anwälte sehen die Einstellung des Verfahrens als Beweis seiner Unschuld und erklären: "An den Anschuldigungen war schlichtweg nichts dran". 

Die Anwälte kündigen zudem an, "weiterhin zivilrechtlich gegen unzulässige Darstellungen in den sozialen Netzwerken und in den Medien sowie gegen rechtswidrige Verdachtsberichterstattungen vorzugehen."

Reaktion der Medien

Daniel Drepper, Leiter des Rechercheverbundes von NDR, WDR und SZ, möchte klarstellen, dass die Einstellung des Verfahrens "keinen Freispruch" bedeutet. 

Medien wie der NDR und der Spiegel, die mit Geschädigten gesprochen haben, beriefen sich auf Anfrage der Staatsanwaltschaft nach Namen ihrer Informantinnen auf den Quellenschutz. Der Spiegel betont aber, nach der Identität der 15-Jährigen sei gar nicht erst gefragt worden. 

Auf die Frage, wieso die betroffenen Frauen nicht mit der Staatsanwaltschaft sprechen wollten, hat der Spiegel eine Antwort: Angst. Bereits früh sollen Lindemanns Anwälte erklärt haben, gegen jede Einzelne, die Vorwürfe äußert, rechtlich vorzugehen. 

Zudem müssen Betroffene aufgrund des hohen Interesses der Öffentlichkeit mit zahlreichen Anfeindungen, Anfragen und anderen Auswirkungen auf ihr derzeitiges Leben rechnen. Für die finanzielle, zeitliche und mentale Belastung eines öffentlichen Prozesses sind viele Betroffene nicht bereit. 

Medien sehen sich in "Wachhundfunktion"

Das Nachrichtenmagazin sieht Journalist/innen in der Pflicht, "Hinweisen über mutmaßliches Fehlverhalten nachzugehen – unabhängig davon, ob es dazu schon ein juristisches Verfahren oder sogar ein Urteil gibt" und im Rahmen einer Verdachtsberichterstattung darüber zu berichten.

Derzeit streiten die Beteiligten vor Zivilgerichten darüber, ob die Anforderungen an die Zulässigkeit einer solchen Berichterstattung auch im Fall Lindemann gewahrt wurden. 

Das oft sehr pressekritische Landgericht Hamburg untersagte dem Spiegel nur wenige Aussagen, die das Magazin ohne hinreichende Verdachtsgrundlage getroffen habe. Der Spiegel betont, dass die oben genannten Vorwürfe, die unter eidesstattlicher Versicherung vorgebracht wurden, nicht dazu zählen. Die hält das Landgericht für glaubhaft dargestellt und von "hohem Informationsinteresse".

Den Vorwurf von Lindemanns Anwälten, das Nachrichtenmagazin habe die "Intimsphäre ihres Mandanten" verletzt, hält das Landgericht nicht für zutreffend und untersagte lediglich die Berichterstattung über angebliches "Spiking". Gegen dieses Teilverbot will sich der Spiegel allerdings wehren: "Falls nötig, beschreiten wir den Rechtsweg auch bis zum Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht."

Die Sache mit der Unschuldsvermutung

Heribert Prantl, Jurist und Autor der Süddeutschen Zeitung, äußert sich in einem Interview zu den Vorwürfen, mit denen sich die Medien, die zu dem Thema berichteten, jetzt konfrontiert sehen:

"Man darf nicht verleumden und man darf kein falsches Zeugnis geben. Aber man darf reden und schreiben, wenn es der Wahrnehmung berechtigter Interessen dient. Auch ein Moralurteil kann der Wahrnehmung berechtigter Interessen dienen. Auch die Aufdeckung von Machtmissbrauch gehört zur Wahrnehmung berechtigter Interessen."

Prantl zufolge erleben wir gerade die "Ambivalenz der Unschuldsvermutung": Die Unschuldsvermutung sei ein Hüter des Rechtsstaats, gleichzeitig dürfe ihre Existenz nicht verhindern, dass über mutmaßliche Verbrechen berichtet wird, egal ob von Betroffenen oder von Medien. 

Dennoch sollten Journalist/innen diesen Grundsatz nicht vergessen, wenn sie über noch nicht bewiesene Taten schreiben und auf keinen Fall die Existenz eines Menschen wegen unbewiesener Behauptungen vernichten.

Wie geht es weiter?

Laut dem Spiegel wurde die Anfrage der Staatsanwaltschaft nach der Identität der angeblich Betroffenen an diese weitergeleitet. Geschädigte könnten Einstellungsbeschwerde erheben. 

Bis zur Verjährungsfrist besteht noch die Möglichkeit, dass das Verfahren bei neuer Beweislage wieder aufgenommen wird. Daniel Drepper vom Rechercheverbund NDR, WDR und SZ kündigte weitere Recherchen an.

Folgen für die Konzertbranche

Es bleibt die Frage, welche Konsequenzen die ganze Affäre für die Konzertbranche hat. Bisher haben sich die meisten Veranstalter mit öffentlichen Aussagen zurückgehalten und Anfragen unbeantwortet gelassen. 

Eines der wenigen Statements stammt von einem anonymen Veranstalter, der gegenüber dem MDR erklärte, auf von ihm/ihr veranstalteten Konzerten würden "keine Besucher/innen in den Backstage-Bereich oder in die Künstlerbereiche gelassen." Er (oder sie) kritisierte weiterhin, "dass die Verfehlungen eines Musik-Stars jetzt zu dem Problem von Veranstaltern gemacht werden."

Offensiver hat sich der BDKV zu Wort gemeldet, der als Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft immerhin die Branche als Ganzes vertritt. Dessen Geschäftsführer Johannes Everke erklärte, es sei für alle Veranstalter enorm wichtig, dass das gesamte Publikum ein sicheres und erfüllendes Konzerterlebnis habe. 

Er hält es zudem für "ein generelles, gesellschaftliches Problem", "dass Machtgefüge oder Machtgefälle immer wieder ausgenutzt werden." Es sei daher "höchste Zeit, sich damit bewusst auseinanderzusetzen."

Kampf gegen sexuellen Missbrauch

Zudem kündigte der BDKV kürzlich an, mit der Organisation Act Aware zusammenzuarbeiten, um "sexuellen (Macht-) Missbrauch in der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft" zu bekämpfen. 

Der Verband befürwortet die Vorschläge von Bundesministerin Lisa Paus zu einem "Bündnis gegen Sexismus". Um das Vorhaben voranzutreiben, will der BDKV mit Paus' Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ins Gespräch kommen und dabei seine bisherigen Erfahrungen und Maßnahmen in das gemeinsame Projekt einbringen. 

Sonia Simmenauer, Präsidentin des BDKV erklärt dazu:

"Abgesehen davon glauben wir, dass diverse Teams für solche missbräuchlichen Verhältnisse und Verhaltensweisen weniger anfällig sind und setzen daher auf Diversität auf und hinter der Bühne. Dafür sind wir Anfang des Jahres der internationalen Initiative Keychange beigetreten, die unsere Unternehmen bei mehr Diversität und Geschlechtergerechtigkeit unterstützt."

Reaktion der Kulturstaatsministerin

Claudia Roth plädierte dafür, die Vorwürfe ernst zu nehmen und war gleichzeitig empört über die hämischen Reaktionen, die den Äußerungen der jungen Frauen in den sozialen Medien entgegengebracht wurden. 

Ein wichtiger Schritt sei – so die Kulturstaatsministerin – bei den Rammstein-Konzerten keine Aftershow-Partys mehr stattfinden zu lassen und die Row Zero, die Fan-Reihe vor der Absperrung an der Bühne, abzuschaffen.

Die Grünen-Politikerin schlägt vor, bei den Shows Awareness-Teams einzusetzen, bei denen sich Fans melden können, wenn sie sich während des Konzerts in irgendeiner Hinsicht unsicher oder belästigt fühlen. Diese Maßnahmen sollen bereits bei den kommenden vier Konzerten in München umgesetzt werden. Gegenüber der dpa erklärt Claudia Roth:

"Patriarchales Mackertum und sexuelle Übergriffe haben in der Musikbranche, wie überhaupt in Kunst und Kultur und auch überall sonst, nichts mehr zu suchen."

Mit dem Ziel, einen Verhaltenskodex für die gesamte Kulturbranche zu erarbeiten, hat Roth einen Aktionsplan zur Förderung eines Kulturwandels gegen sexuelle Belästigung und Gewalt in den Kultur- und Medienbranchen vorgelegt. Sie sieht die Musikindustrie – mit Labels, Verlagen, Festivals und Veranstalter/innen – in der Pflicht, für eine stärkere Sensibilisierung für Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe zu sorgen.

Viel Aufmerksamkeit

Das Problem betrifft im Übrigen nicht nur Männer. Vor einigen Wochen erhoben Tänzerinnen Vorwürfe gegen US-Sängerin Lizzo und warfen ihr sexuelle, religiöse und rassistische Belästigung, Diskriminierung aufgrund einer Behinderung, Körperverletzung und Freiheitsberaubung vor.

Die Einstellung der Ermittlungen gegen Till Lindemann ist keine Kleinigkeit, ändert aber nichts daran, dass das Thema des sexuellen Fehlverhaltens von Künstler/innen bei Konzerten so viel Aufmerksamkeit erhalten hat wie niemals zuvor.

Für Bands, Künstler/innen, Veranstalter/innen und sogar Club- und Hallenbetreiber/innen gibt es kein Zurück mehr. Wenn es das Ziel ist, dass bei Konzerten alle Besucher/innen eine gute Zeit verbringen, sind neue Konzepte nötig, die sexuelles Fehlverhalten effektiv verhindern. Die Debatte darüber hat begonnen und ist nicht mehr aufzuhalten.

Glaubt ihr, dass die Lindemann-Affäre die Konzertbranche verändern wird?

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