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Angstfrei Kunst und Aktivismus vereinen

"Für gute Ideen muss immer Geld da sein!": Interview mit Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard

Interview von Jan Paersch
veröffentlicht am 24.05.2017

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"Für gute Ideen muss immer Geld da sein!": Interview mit Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard

Amelie Deuflhard. © Marcelo Hernandez

Wir sprachen mit Amelie Deuflhard über die Vermittlung von Kunst an schwierige Zielgruppen, die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Elbphilharmonie und darüber, warum Pop-Musik die schnellste Art ist, ein Publikum aufzubauen.

Es dauert, bis man auf dem weitläufigen Gelände der ehemaligen Kran-Fabrik Kampnagel im Hamburger Stadtteil Winterhude das Verwaltungsgebäude gefunden hat. Auf dem Weg passiert man den riesigen Schriftzug "Refugees Welcome", der schwarz auf neongelb über dem Haupteingang prangt. Amelie Deuflhard empfängt in ihrem ganz und gar unglamourösen 18-Quadratmeter-Büro, das sie sich mit ihrer Assistentin teilt. Die 57-jährige trägt Sneakers, Jeans und Hemd und sprüht nur so vor Tatendrang und Lebendigkeit. Seit 2007 hat sie die künstlerische Leitung von Kampnagel inne.

Backstage PRO: Amelie Deuflhard, was unterscheidet Kampnagel von anderen großen Kultureinrichtungen?

Amelie Deuflhard: Wir arbeiten stark interdisziplinär. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal in Deutschland, aber auch international. Auf Kampnagel gibt es Theater, Musiktheater, Performance, Tanz, Installationen Bildender Kunst und ein großes Popmusik-Programm. Das ist schon ungewöhnlich. Was uns auch von anderen unterscheidet ist, dass wir sehr politische Zugänge zur Kunst haben. Wir arbeiten ganz angstfrei in Richtung Kunst und Aktivismus. Wir haben bestimmte Themencluster, Migration und Flucht ist eines davon, Klimawandel ein anderes. Obendrein arbeiten wir mit Behinderten und Nicht-Behinderten an Inklusionsthemen.

Backstage PRO: Es heißt Kampnagel sei "Deutschlands größte freie Spiel- und Produktionsstätte für die Darstellenden Künste." Was bedeutet frei?

Amelie Deuflhard: Wenn man es streng betrachtet, sind wir nicht ganz frei. "Frei" bedeutet nur, dass die Künstler, mit denen wir arbeiten, nicht angestellt sind, es sei denn bei ihrer eigenen Kompanie. Wir sind der größte Produktionsort in Deutschland, vielleicht sogar in Europa, im Segment der ganzjährig genutzten Stätten. Bei der Ruhrtriennale beispielsweise gibt es riesige Hallen, aber die werden nur zwei Monate lang genutzt. Wir haben auch ein großes Gelände, mit sieben ganz unterschiedlich großen Spielstätten. Da kann man einen Künstler wirklich wachsen lassen.

Backstage PRO: In Ihrer Amtszeit hat Kampnagel deutliche Zuschauer-Zuwächse verzeichnet. Wie setzt sich Ihr Publikum zusammen?

Amelie Deuflhard: Was allen hier gastierenden internationalen Kompanien auffällt: Unser Publikum ist mit den Jahren sehr divers geworden, in Bezug auf Altersstufen und sozialen Hintergrund. Menschen mit Migrationshintergrund sind schwer in die Kulturinstitutionen zu locken, das ist eine große Aufgabe für die Zukunft. Da sind wir noch nicht so weit, wie ich es gerne hätte, aber deutlich weiter als die meisten anderen Kunstinstitutionen.

"Am leichtesten kommt man an die Leute mit Pop-Musik ran"

Backstage PRO: Das ist eine wichtige Frage: wie erreicht man Menschen, die eigentlich eher kulturfern sind?

Amelie Deuflhard: Wir haben es leichter als die Staatstheater. Die arbeiten mit europäischen Stoffen und deutschen Ensembles, also mit Themen, die Menschen aus Russland und dem Libanon nicht unbedingt interessieren. Wir fördern auch die lokale Szene, aber wir arbeiten international. Am leichtesten kommt man an die Leute mit Pop-Musik ran, das ist das Niederschwelligste. Das funktioniert am Besten über Social Media, da entstehen Schneeballeffekte. Für das Konzert der syrisch-armenischen Sängerin Lena Shamamian letztes Jahr verkauften wir innerhalb kürzester Zeit 400 Tickets online. Das hat sich in ganz Deutschland verbreitet, und erst dann begannen die Hamburger, zu bestellen.

Backstage PRO: Menschen mit Migrationshintergrund zu erreichen ist das Eine. Aber wie vermitteln Sie das Programm Menschen, die bloß sechs Mal im Jahr ins Multiplex-Kino gehen?

Amelie Deuflhard: Maximal zehn Prozent der Leute gehen ins Theater. Manche meinen deshalb, die Einrichtungen müssten deshalb ständig ums Publikum kämpfen, gegeneinander. Ich glaube, man kann auch eine breite Masse mit populären Formaten gewinnen. Zum Beispiel Chilly Gonzales und Jarvis Cocker. Sie proben gerade nebenan für die Uraufführung ihres Liederabends "Room 29". Mit Angeboten, die viele interessieren, wird es einfacher, Leute ein zweites Mal herbeizulocken. Wir müssen mit anderen Tools arbeiten als die Stadttheater. Die Dreigroschenoper kennt halt jeder.

Backstage PRO: Spüren Sie eigentlich konservativen Gegenwind in der Stadt?

Amelie Deuflhard: Es gibt sicher Gruppierungen, die unser Engagement nicht nur gutheißen, aber wir haben ein sehr heterogenes Publikum. Wir wollen auch die Konservativen darunter ansprechen. Zeitgenössische Kunst muss für alle da sein. Das zeigt die Geschichte: viele berühmte Künstler wie van Gogh und Mozart waren zu ihrer Zeit arm und unbekannt, und wurden erst später berühmt.

Backstage PRO: Sie haben mal gesagt, Sie hätten den Traum, eine Stadt als Theater zu bespielen. Eignet sich Hamburg da besonders gut für?

Amelie Deuflhard: Dafür eignet sich jede Stadt. Demnächst gastiert das internationale Festival Theater der Welt in Hamburg, da bespielen wir eine riesige Halle nahe der HafenCity. Wenn wir das Geld dafür hätten, würden wir auch andere Leerstellen besetzen: Bankgebäude, das ehemalige Spiegel-Hochhaus, das Rathaus. Viele Stellen der Stadt sind total unbekannt. Ich würde gerne mal eine Umfrage machen, wieviele Bewohner der zentralen Bezirke schon mal im einkommensschwachen Stadtteil Billstedt im Hamburger Osten waren. Vermutlich nicht sehr viele. Ich bin öfter da, um die HipHop Academy anzuschauen, ein Non-Profit Projekt für Jugendliche, die ein kostenloses Trainingsprogramm in allen Bereichen der HipHop-Kultur bekommen.

Amelie Deuflhard

Amelie Deuflhard, © Marcelo Hernandez

"Die Avantgarde war von Anfang an eingeschrieben"

Backstage PRO: Der Standort Kampnagel auf einem 150 Jahre alten Fabrikgelände ist ein ungewöhnlicher. Spielt das eine Rolle?

Amelie Deuflhard: Natürlich. Es gibt nicht mehr viele von diesen Fabriktheatern, die in den 80er Jahren entstanden sind. Die Idee war damals, aus den klassischen Theatergebäuden auszuziehen und mit anderen Formen zu experimentieren. Die Avantgarde war von Anfang an eingeschrieben. Wenn wir hier etwas Klassisches machen würden, würde sich unser Publikum wundern. Obendrein ist so ein Fabrik-Raum weniger heilig, das macht das Programm zugänglicher. Und wir haben das große Außengelände, wo wir für das jährliche Sommerfestival einen Kunst- und Biergarten anlegen.

Backstage PRO: Wie wählen Sie Ihr Programm aus, insbesondere Ihr Musikprogramm?

Amelie Deuflhard: Wir waren nicht die ersten, die Pop ins Theater geholt haben. Die Besucherzahlen von Kampnagel waren zurückgegangen, bevor ich anfing; da war Pop eine Strategie von uns, denn das ist die schnellste Art, ein junges Publikum zu gewinnen. Im ersten Monat meiner Amtszeit staunten viele: da hatten wir gleich Tocotronic zu Gast. Beim Musikprogramm gehen wir ähnlich vor wie beim Gesamtprogramm: es gibt viel Junges und Experimentelles. Wir müssen damit nichts verdienen, andererseits dürfen wir in einem so kommerziellen Sektor auch kein Geld verlieren. Wir haben Bands, die die große Halle K6 mit 1200 Zuschauern vollmachen, aber können es uns auch leisten, Unbekannte zu buchen.

Backstage PRO: Kommen Sie beim Booking manchmal anderen Hamburger Veranstaltern in die Quere?

Amelie Deuflhard: Wir führen viele Gespräche, um genau das zu verhindern. Da kommt gerne mal der Vorwurf, dass wir gefördert würden und andere sich kommerziell durchschlagen müssten. Ganz stimmt das nicht, auch ein Reeperbahn Festival bekommt schließlich Förderung. Wir wollen da nicht in Konkurrenz gehen. Künstlerisch haben wir schon immer Richtung Pop-Kultur gearbeitet, das ergibt sich logisch aus unserer Programmatik. Oft sind Konzerte spät terminiert, quasi als After-Show-Party. Hier soll es auch nachts noch etwas geben. Das bürgerliche Publikum darf ins Restaurant gehen und für die Jüngeren gibt es noch Parties.

Das ist Teil vom Gesamterlebnis Kampnagel.

Backstage PRO: Buchen Sie auch wenig bekannte Bands, die sich selbst bewerben?

Amelie Deuflhard: Wir suchen uns die Künstler selber aus, trotzdem wird auch ständig etwas an uns herangetragen. Es ist natürlich schwierig für ganz unbekannte Acts. Wir haben aber oft junge Hamburger als Vorbands.

"Kampnagel ist nicht bloß ein widerständiger Off-Space"

Backstage PRO: Für Ihr Sommerfestival im August gehen Sie mit zwei Bands in die Elbphilharmonie: die Tindersticks und Rufus Wainwright. Nun sind Pop-Konzerte dort akustisch schwierig. Sind die bei Ihnen in der großen Halle nicht viel besser aufgehoben?

Amelie Deuflhard: Da waren sie auch schon beide, sogar mehrfach. Die Elbphilharmonie hat nicht das Geld dafür, jeden Abend Programm zu machen, deshalb sind dort alle Konzertveranstalter involviert. Wir verdienen damit weniger Geld, als wenn wir die Konzerte selbst veranstalten würden, obwohl die Elbphilharmonie doppelt soviele Plätze hat. Die Idee war: man nutzt den Hype. Ich möchte nicht, dass Kampnagel bloß als widerständiger Off-Space wahrgenommen wird. Wir arbeiten auch mit Großkünstlern zusammen, die anderswo in den bekanntesten Opernhäusern auftreten. Baulich sind wir dirtier als die Elbphilharmonie, aber inhaltlich keineswegs. Um die Menschen daran zu erinnern, müssen wir solche Kooperationen machen.

Backstage PRO: Ist es nicht erstaunlich, wieviel Geld auf einmal für die Kultur da ist, wenn es um ein Leuchtturmprojekt wie die Elbphilharmonie geht?

Amelie Deuflhard: Absolut. Deshalb bin ich auch unempfänglich für Politiker, die argumentieren, man habe kein Geld. Die lokale freie Szene, die beschämend wenig Geld bekommt, wird seit Jahren mit Hinweis auf leere Kassen vertröstet. Aber es stimmt einfach nicht. Dieses Argument darf man nie akzeptieren. Für gute Ideen muss immer Geld da sein!

Backstage PRO: Könnten Sie ihr Programm ohne die Zuschüsse der Stadt machen?

Amelie Deuflhard: Als rein kommerziellen Ort könnte man das sicher machen, mit populärem Programm und hohen Eintrittspreisen. Aber eine Stadt wie Hamburg braucht einen Ort für zeitgenössische Künste, einen Ort, der internationale Produktionen einlädt und künstlerisch ein großes Netzwerk über die Stadt hinaus in der ganzen Welt spinnt. Unsere Fördersumme beträgt ca. fünf Millionen Euro im Jahr, das reicht gerade einmal, um unsere Leute zu bezahlen. Ohne Förderung kein Kampnagel-Programm. Dazu haben wir eine große Drittmittelabhängigkeit.

Backstage PRO: Also bei Sponsoren Klinken putzen?

Amelie Deuflhard: Unsere Haupteinnahmequellen sind öffentliche und private Gelder, die in Wettbewerben vergeben werden. EU-Gelder zu beantragen ist sehr anstrengend und zeitaufwändig. Maximal 15 Prozent der Anträge kommen durch. Gerade sind wir mit anderen großen Produktionshäusern dabei, der Bundesregierung zu verklickern, dass man eine Art Exzellenzcluster braucht, wie es es in der Wissenschaft gibt.

"In Hamburg war Kunst immer bloß das Sahnehäubchen"

Backstage PRO: Sie sind viel herumgekommen. Aufgewachsen sind Sie in Stuttgart, haben dann über 20 Jahre in Berlin gelebt und gearbeitet. Wie ist der Stellenwert der Kunst an diesen drei Orten?

Amelie Deuflhard: Die Schwaben haben eine andere Beziehung zu Geld und Arbeit als der Rest der Republik. Um auf Kampnagel zu arbeiten, waren das Aufwachsen in Stuttgart und die lange Zeit in Berlin die perfekten Voraussetzungen. Die Zeit nach der Wende war eine totale Pionierzeit. In Berlin Mitte hat man sich einen der vielen leeren Läden geschnappt und den irgendwie wieder hergerichtet. Das ehemalige Postfuhramt, die Sophiensäle, der dekonstruierte Palast der Republik – nur drei Beispiele, bei denen ich gearbeitet habe. Man musste sich nirgendwo bewerben, hat einfach angefangen und sich gedacht: wird schon. Und wenn man rausgeflogen ist, ging man woanders hin, es gab ja genug Orte. Das war auch eine gewisse Hybris. Wir haben gedacht, wir sind die Stadt. Und im Rückblick war es auch so!

Backstage PRO: Und wie ist es heute?

Amelie Deuflhard: Der Pioniergeist ist noch da, steht aber nicht mehr im Vordergrund. Es ist internationaler geworden, und gleichzeitig der Überlebenskampf härter. Selbst in New York City überlegen die Künstler, ob sie nach Berlin ziehen sollen. Die Konkurrenz und somit der Druck waren immens. In Hamburg war Kunst immer bloß das Sahnehäubchen, Handeln und Geldverdienen – das ist hier das richtige Leben. Aber: ich kann hier ruhiger und konzeptioneller arbeiten. Kampnagel ist ein toller Ort mit unglaublich vielen Möglichkeiten. Ich arbeite hier sehr gern.

Backstage PRO: Welche Künstler würden Sie gerne noch nach Kampnagel holen?

Amelie Deuflhard: Grace Jones wäre so jemand. Banksy, Marina Abramovic. Christoph Schlingensief, wenn er noch leben würde. Ein paar Wissenschaftler habe ich auch noch in petto. Und wenn ich noch ein paar Jahre bleibe, werden die auch alle noch kommen.

Backstage PRO: Vielen Dank für Ihre Zeit!

Unternehmen

Kampnagel Internationale Kulturfabrik GmbH

Veranstalter in 22303 Hamburg

Locations

Kampnagel

Kampnagel Hamburg

Jarrestraße 20, 22303 Hamburg

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