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"Gier ist überall ein Killer"

"Mein Plan B": Michelle Leonard über ihre Karriere als Songwriterin und ihren Umgang mit der Coronakrise

Interview von Martell Beigang
veröffentlicht am 18.08.2020

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"Mein Plan B": Michelle Leonard über ihre Karriere als Songwriterin und ihren Umgang mit der Coronakrise

Michelle Leonard bei einem Fotoshoot zu ihrer neuen Position bei der GEMA. © Sebastian Lindner

Nur wenige Musiker leben ausschließlich von ihrer eigenen Musik. Für die meisten Profis besteht ihr Job aus ganz unterschiedlichen Facetten. Gerade in dieser so besonderen Zeit muss man umso kreativer neue Wege suchen. In unserer Serie Plan B stellen wir euch Kollegen vor, die interessante Nischen besetzen. Heute: Michelle Leonard (47), Sängerin, Komponistin (Robin Schulz, Aurora, Nico Santos u.a.m.) und seit kurzem stellvertretendes Aufsichtsratsmitglied der GEMA.

Backstage PRO: Hallo Michelle, Du schreibst Songs für viele erfolgreiche Interpreten. Wie hat das bei dir angefangen?

Michelle: Mir war schon sehr früh klar, dass ich etwas mit Musik machen wollte, weil in unserem Elternhaus immer viel Radio gehört wurde. Ich habe als Kind die Songs auf meinem Keyboard nachgespielt und merkte, dass Musik ganz viel mit mir machte, dass sie mein Medium war.

Ich ging ganz spielerisch daran. Nach und nach füllte sich meine musikalische Toolbox und ich stellte fest, dass ich damit auch gut für und mit anderen kochen konnte. Ich kann mich inzwischen sehr gut in andere Leute hineinversetzen und ein Medium für sie sein, ihr Artistprofiler sein oder ihnen eine Debutsingle schreiben, damit sie direkt einen Kickstart hinlegen.

"Als ich anfing, gab es den Beruf des professionellen Songwriters so noch nicht"

Backstage PRO: Schreibst du nur die Texte oder auch die Musik?

Michelle: Ich habe eine gute Helikoptersicht. Das bedeutet: Ich habe das ganze Ding sehr schnell vor meinem inneren Auge. Und dann weiß ich auch, welche Leute noch gebraucht werden, etwa welcher Producer. Meistens schreibe ich im Zweierteam plus Artist. Ich bin stark bei Melodien und Texten und verfüge über Produzenten-Kentnisse.

Ideal ist, wenn ein Topliner ein gutes Verständnis vom Producing hat und ein Producer versteht, was ein Topliner macht. Das gilt auch beim Text. Deswegen arbeite ich gerne mit Leuten zusammen, die diese Skills haben.

Backstage PRO: Wolltest du am Anfang selbst Interpretin sein?

Michelle: Ich bin halbe Engländerin und bin auf eine englische Schule gegangen und bin dadurch praktischerweise bilingual. Zu Hause lief immer BFBS Radio. Und genau dort wollte ich als Teenager rein. Deswegen dachte ich lange: damit das passiert, müsste ich auch singen. Als ich anfing, gab es den Beruf des professionellen Songwriters ja so noch nicht.

Erst mit Mitte zwanzig wurde mir klar, dass das auch ein Job ist. Dabei hatte ich mit 17 schon den ersten Verlagsdeal bei der EMI und einen Plattenvertrag. Die Leute haben halt erwartet, dass ich die Songs, die ich komponierte, auch selbst singe. Deshalb habe ich ganz viele Wellen und Genres durchgemacht.

"Es gab Songs, die ich gerne geschrieben, aber ungerne performt habe"

Backstage PRO: Hast du ein Beispiele für uns?

Michelle: Eine Duo-Band, die ich hatte, hieß GRRRRRR!!! – eine abstrakte Elektronik-Band mit Hendrik Meyer. Wir haben damals mit MD-Rekorder Samples auf der Straße aufgenommen und die in meinem Homestudio in Köln zusammengebastelt. Oder die Band "Jet Set Diva" mit Jono Podmore und Andreas Thein. Das war englischer Elektro-Punk, den wir damals noch im Can-Studio in Weilerstwist aufgenommen hatten. Das waren aber auch Zeiten ohne Youtube oder Social Media, wo man die krassesten Sachen gemacht hat, die in der kommerziellen Welt überhaupt nichts zu suchen hatten. Diese Songs konnten nicht im Netz "gefunden" werden.

Ich hatte mit den zahlreichen Projekten in dieser Zeit echt schöne Konzerte, z.B. in New York im Public Theater. Das war eine sehr spannende Zeit. Ich hatte Spaß beim Singen und auf der Bühne  – aber diese Zeit war finanziell sehr undankbar.

Dann gab es auch Songs, die ich gerne geschrieben habe, die ich aber ungerne performt habe, weil die einfach nicht "Ich" waren, weil sie auf meine Stimme nicht passten oder weil ich noch als Artist am Wunden lecken oder auf der Suche war. Und als dann die Tür aufging, für andere zu schreiben, war ich total befreit, nicht mehr im Mittelpunkt stehen zu müssen. Stattdessen konnte ich plötzlich ganz verschiedene Sachen machen, verschiedene Stile ausprobieren und mich dem Handwerk "Songwriting" komplett widmen.

"Zeitgeist ist eins der wichtigsten Instrumente überhaupt"

Backstage PRO: Wie schreibst du? Nach Inspiration oder wartest du auf einen Auftraggeber?

Michelle: Das ist immer unterschiedlich. Einige Songs entstehen, weil sie raus müssen oder weil die Vibes stimmen. Wenn ich mich für einen Artist so richtig entscheide, dann beschäftige ich mich immer so gut es geht mit dem Künstler. Ich bereite mich vor und dann wird ein Raum in meinem Kopf für diese Person frei und ich fange an Themen, Bilder, Soundideen etc. zu sammeln.

Zusammen mit dem Künstler versuche ich dann herauszufinden, welche Welt man gemeinsam bauen kann. Und natürlich ist Zeitgeist eins der wichtigsten Instrumente überhaupt. Auch wenn man Retromusik macht, muss sie irgendwie in die heutige Zeit passen.

Backstage PRO: Hat die Coronakrise einen großen Einfluss auf deine Arbeit gehabt?

Michelle: Es ist eine interessante Situation, man geht durch so viele Flächen. Man arbeitet sich durch die Angst, die Einsamkeit.

Ich selbst hab ja keine Familie, mit der ich zusammenwohne oder jemand, dem ich abends erzählen kann: Mir geht es heute richtig scheiße. Es war hart, weil man sein eigener Kompass sein, sich immer wieder selbst aufbauen muss. Mental Health Awareness ist ja bei vielen Songwritern und Artists eh ein Thema. Viele sind alleine und gefährdet in der jetzigen Situation, gerade wenn auch noch Existenzängste dazukommen. Auch wenn Musik eine Therapie sein kann, hat mich die Situation natürlich mitgenommen.

"Ich habe mich erstmal selbst für vier Wochen eingesperrt"

Backstage PRO: Du hast jetzt den seelischen Aspekt angesprochen. Hat es dich denn praktisch von deiner Arbeit abgehalten?

Michelle: Am Anfang fiel alles weg. Im ersten Monat war ich selbst krank. Ich kann mir vorstellen, dass ich Corona hatte, da einige Kollegen von mir erkrankt waren. Ich muss aber erst noch einen Test machen. Ich habe mich dann erstmal selbst für vier Wochen eingesperrt. Obwohl ich ja sonst auch oft alleine bin, war die Zeit sehr krass.

Zuerst die Angst: Du bist krank, du willst nicht zum Arzt, um nicht andere Leute anzustecken. Du willst aber auch nicht zu einer Teststation, denn wenn du es nicht hattest, ist die Gefahr groß, es dort zu bekommen. Dann ging mir viel durch den Kopf. Was ist, wenn ich jetzt keine Songs mehr schreibe? Denn alles ist weggebrochen. Ich hatte keine Co-Writings mehr im und vom Ausland. Eigentlich wollte ich nach Norwegen zu Aurora. Die hatten in Norwegen sehr starke Quarantäne-Gesetze von Anfang an. Mein Homestudio war leer, mir fehlten die Künstler, das Leben, das Spielen, das unterwegs sein, meine Writing Partner, das Miteinander im Creative Space. Die ersten drei Monate ging das so durch.

Dann machte ich mir langsam Sorgen, denn gerade bei uns, die wir vom Songwriting leben, werden die richtigen Auswirkungen ja erst nächstes Jahr kommen: Die Sachen, die ich heute schreibe, werden ja meistens erst im nächsten Jahr veröffentlicht und die Live-GEMA-Einkünfte aus diesem Jahr fallen auch weg.

Backstage PRO: Du lebst also tatsächlich von den GEMA-Tantiemen oder bekommst du manchmal auch etwas direkt fürs gemeinsame Schreiben?

Michelle: Inzwischen handhabe ich das ganz unterschiedlich. Bei Künstlern, mit denen ich schon jahrelang gearbeitet habe und wo wir gemeinsam Geld verdient haben, komme ich da natürlich nicht mit einer Tagespauschale. Aber bei manchen Projekten, wo ich viel Energie und Zeit reinstecke, geht es manchmal einfach nicht anders. Da müssen dann andere Türen aufgemacht werden. Das finde ich fair. Ich habe ja inzwischen auch viel Erfahrung und schon oft unter Beweis gestellt, dass die Vision, die wir da gemeinsam bauen, auch zum Erfolg führt. Ich entscheide das von Fall zu Fall.

"Wir müssen uns jetzt fragen, wie wir die Zukunft gestalten und wie wir überhaupt arbeiten und leben wollen"

Aber ich wollte nochmal zurück zu Corona. Nach der Existenzangst kam die Frage hoch: Was mache ich eigentlich mit meinem Leben? Ist das alles so richtig? Dann kam die Erkenntnis: Doch, ist alles geil. (Lacht) Also, ich bin durch tausend Räume gelatscht. Dann kam die Phase, wo ich jeden Abend meditiert habe, um nicht durchzudrehen. Dann die Erkenntnis: Ich schaue ab jetzt weniger Nachrichten und lese Bücher, die mich inspirieren. Und dann kam die Heilung, der Frühling und ich habe ausgemistet, geputzt, Blumensamen bestellt. Das hat mir geholfen. Die Blumen sagen: ich brauche nur Licht und ein bisschen Liebe von dir Michelle und dann geht es ab. Klingt voll kitschig, aber es ist ja in allem so. Dann fing ich sogar an Brot zu backen.

Dann kamen die ersten Lichtblicke, die Writing-Anfragen und ich schrieb wieder mit Künstlern über Zoom. Und jetzt schreibe ich plötzlich mit vielen online. Die bewusste "Wir haben doch jetzt Zeit"-Phase. Und alles passiert im eigenen Rhythmus. Man geht ganz respektvoll mit dem kreativen Flow um. Das ist eine sehr wertvolle Sache, die ich gerne mitnehmen würde in die Zeit, wenn es vorbei ist. Ganz viele sagen jetzt auch: Ich merke jetzt überhaupt mal, wie burned out, fertig oder müde ich vorher war.

Unsere Branche ist ja die ganze Zeit unterwegs. Wo sind die nächsten Projekte, was ist spannend? Und wenn man dann im Projekt ist, gibt man ja auch immer alles. Teilweise arbeiten wir an mehreren Alben oder Projekten parallel, das powered aus. Und wir müssen uns jetzt fragen, wie wir die Zukunft gestalten und wie wir überhaupt arbeiten und leben wollen.

Viele Leute machen sich zum ersten Mal Gedanken über ihre Langzeitpläne. Sie fragen sich, wie habe ich mein Leben gelebt vor Corona? Was waren die Sachen, die ich gut fand, und was möchte ich ändern? Es werden gerade viele Fragen gestellt und das ist erstmal eine gute Sache.

Backstage PRO: Könntest du sagen, wie viele Songs du bislang veröffentlicht hast?

Michelle: Hunderte. In allen Genres. Ich bekomme ganz gut GEMA, aber das ist ganz unterschiedlich von Jahr zu Jahr. Es ist und bleibt ein ziemlich riskanter Beruf. Aber ich liebe ihn.

"Nur von Streaming könnte ich als Songwriter nicht leben"

Backstage PRO: Kann man von einem Hit eigentlich immer noch leben, so wie früher?

Michelle: Wenn man einen Song für Taylor Swift schreibt und das wird dann die Single und dann noch ein großer Hit in Amerika, dann vielleicht, wenn man das Geld nicht aus dem Fenster wirft.

Ich bin erfolgreich geworden, als der ganze Napster-Shit schon lief. Mein Anwalt meinte damals, dass ich von den Tantiemen, die mir eigentlich zustünden, nur etwa die Hälfte gesehen hätte. Radio/TV/Kino/Werbe- und GEMA-Einnahmen sind immer noch ganz gute Einnahmequellen, denn nur von Streaming könnte ich als Songwriter nicht leben.

Der Druck ist groß und die Frage, wie wir als Songwriter in der Zukunft überleben werden, ist einer der wichtigsten Fragen, die ich mir stelle. Es gibt genug Geld in der Musikindustrie – Fair Share is Key. Gier ist überall ein Killer. Die Branche ändert sich rasant und da muss es ein Common Ground geben. Ein Song fängt mit Urheberrechten an und dieser Baustein muss geschützt sein. Kugelsicher und stark.

Backstage PRO: Was sind deine nächsten Pläne?

Michelle: Es gibt viele konkrete Sachen. Meine Arbeit ist ja auf mehreren Säulen aufgebaut. Seit 2005 unterrichte ich regelmäßig an der Popakademie in Mannheim und gebe Workshops weltweilt. Der Austausch mit Studenten ist mir extrem wichtig. Ich bekomme dadurch immer wieder einen Reality Check. Während Corona war die Popakademie auch echt gut und schnell im Umsetzen vom Online-Unterricht.

Daneben ist mir die Zukunftsgestaltung unseres Berufes sehr wichtig. Ich durfte zum Beispiel beim Europa-Parlament in Brüssel reden. Das Songwriting ist für mich die wichtigste und stärkste Säule, darauf baut sich alles auf und natürlich lebt die Künstlerin in mir.

Als ich die schon längst abgeschrieben hatte, kam plötzlich die Dancewelle, und ich habe mit jungen DJs zusammengearbeitet. Dann stand dann immer die Frage im Raum: Und wer soll das am Ende singen? Und die meinten dann: Wieso, das Demo ist doch geil. Du sollst das singen. Ich meinte dann nur: Aber dir ist schon bewusst, dass ich in der Popwelt ein Dinosaurier bin? Ist doch scheißegal. Und dann gab es für einen Track plötzlich doppelt Platin. Dann wollte plötzlich Robin Schulz, dass ich für ihn singe… Und inzwischen habe ich als Feature Artist über 40 Millionen Streams.

"Man muss einfach machen, worauf man Bock hat"

Es waren extrem viele "No's" in meinem Kopf. Aber da draußen sind die scheinbar gar nicht mehr so relevant. Dann habe ich mir gesagt: Ich mach das jetzt einfach und habe mich getraut einem Plattenboss meine Sachen vorzuspielen. Mit so einer positiven Reaktion hätte ich gar nicht gerechnet: Der fand meine Songs super und mich als Artist spannend. Und jetzt bin ich gerade dabei, meinen Plattenvertrag zu verhandeln. 

Wie oft hatte ich vorher gehört: Das wird eh nichts, das darf man nicht, du bist zu dies oder zu das, bla, bla, bla. Aber am Ende habe ich vielen gezeigt, dass das sehr gut geht und falls mal nicht, dann Krone richten und weiter.

Backstage PRO: Danke für das spannende Gespräch. Viel Glück und Erfolg bei allem, was noch kommt!

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