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Stillstand verboten

Die unglaublichen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem US-Musikmarkt

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 29.02.2016

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Die unglaublichen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem US-Musikmarkt

In Deutschland werden fast 70 Prozent des Umsatzes mit physischen Tontraegern erzielt. © wavebreakmediamicro / 123RF

Die jüngsten Zahlen des deutschen Musikmarkts zeigen, dass hierzulande fast 70% des Umsatzes mit physischen Tonträgern erzielt wird. Ein Blick auf die andere Seite des Atlantiks legt allerdings nahe, dass die aktuelle Situation keinen Bestand haben wird.

Der Bundesverband Musikindustrie verkündete jüngst, dass der deutsche Musikmarkt im Jahr 2015 um 4,6% gewachsen ist. Verantwortlich dafür ist eine relative Stabilität bei physischen Tonträgern (leider wird der CD-Absatz nicht einzeln ausgewiesen) und bei Downloads, deren Umsatz jeweils nur um 4,2% und 2,6% zurückging und ein starkes Wachstum beim durch Streaming erzielten Umsatz, der sich fast verdoppelte.

Nach wie vor werden fast 70% des Umsatzes im deutschen Musikmarkt mit physischen Tonträgern erzielt. In den USA waren es im 1. Halbjahr 2015 hingegen gerade noch 24%!

Was ist die Ursache für diese krassen Unterschiede?

Deutschland: Das Königreich der CD

Zunächst zeigt sich der CD-Absatz in Deutschland trotz eines leichten Rückgangs erstaunlich stabil. In den USA stellt sich die Situation völlig anders dar.

Dort ist der durch den Verkauf von CDs erzielte Umsatz im 1. Halbjahr 2015 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um nicht weniger als 31,5% eingebrochen und beträgt nur noch knapp 500 Millionen $! Die Zahl der verkauften Einheiten sank im selben Zeitraum um beachtliche 27,6% auf knapp über 40 Millionen.

Rechnet man diese Zahlen auf das Gesamtjahr hoch und vergleicht es mit den deutschen Absatzzahlen kommt man zum Ergebnis, dass in Deutschland im letzten Jahr annähernd so viele CDs verkauft wurden wie in den USA! Die Einwohnerzahl der USA ist aber fast viermal so groß wie die Deutschlands!

Wachtumsmarkt Vinyl

Dem dramatischen Rückgang an CD-Verkäufen steht in den USA das starke Wachstum der Schallplattenverkäufe gegenüber. Der mit Vinyl erzielte Umsatz stieg im ersten Halbjahr 2015 um 52% auf 221 Millionen $. Damit beträgt er ca. 45% des CD-Umsatzes, wobei die Zahl der verkauften Einheiten im Vergleich zur CD weniger als ein Viertel beträgt. 

Wie ist die Lage in Deutschland? Auch dort stieg der mit Schallplatten erzielte Umsatz stark an und zwar um fast ein Drittel. Während der Gesamtanteil von Vinyl am gesamten Musikmarkt 3,2% beträgt, liegt er in den USA aber inzwischen fast bei 7%!

Aufgrund einer etwas komplizierten Aufschlüsselung der USA-Daten und einiger Sondereffekte im dortigen Markt ist der Vergleich des Wachstums beim Streaming schwierig. Streaming besitzt in den USA einen ca. 50% höheren Anteil am Markt als in Deutschland (20% gegen 14,4%). Downloads erzielen immer noch knapp 40% des Umsatzes in den USA, während es in Deutschland lediglich 15,6% sind.

Die Formate im Detail

Verantwortlich für die krassen Unterschiede zwischen den USA und Deutschland sind folgende Faktoren:

  • Die deutschen Verbraucher haben Downloads nie in dem Maße akzeptiert wie Amerikaner. Stattdessen kaufen sie weiterhin CDs.
    Da der Download-Markt inzwischen auf beiden Seiten des Atlantiks rückläufig ist, wird sich daran nicht mehr viel ändern.
  • Streaming ist ein Wachstumsmarkt und steht erst am Anfang.
    Streaming Services wachsen auf beiden Seiten des Atlantiks und diese Entwicklung wird sich fortsetzen, da besonders junge Musikhörer diese Services in besonders starkem Maß nutzen. Die Unterschiede zwischen beiden Ländern sind relativ gering und das starke Wachstum des deutschen Streaming-Markts deutet darauf hin, dass sich diese Entwicklung in den nächsten Jahren fortsetzen wird.
  • Es erscheint fast unausweichlich, dass die CD als Tonträgerformat in den USA in wenigen Jahren so gut wie keine Rolle mehr spielen wird.
    Der immer noch hohe und scheinbar stabile CD-Absatz in Deutschland ist hingegen eine Anomalie. Er wird in dem Maß zurückgehen, wie Streaming an Umsatz gewinnt. Labels und Bands müssen sich darauf einstellen – und dürfen sich keinesfalls dem Glauben hingeben, der CD-Absatz habe sich dauerhaft stabilisiert.

Anders gesagt: Wenn man die Digitalisierung als logische Entwicklung von CD über Downloads hin zu Streaming betrachtet, haben die deutschen Verbraucher den "Zwischenschritt" der Downloads übersprungen und werden innerhalb der nächsten Jahre von CDs direkt zum Streaming wechseln.

Verzögerte Entwicklung in Deutschland

Da die deutschen Verbraucher relativ konservativ sind und angesichts der vergleichsweise guten Wirtschaftslage in stärkerem Maß an CDs festhalten als Menschen in anderen Ländern, kann es durchaus sein, dass dieser Wandel noch bis zu zehn Jahre dauert.

Eine Rezession könnte allerdings diesen Prozess beschleunigen. Selbst wenn sich diese Prognose als falsch erweisen sollte, erscheint es auch für Deutschland extrem unwahrscheinlich, dass der CD-Absatz wieder wachsen könnte.

Für diese verzögerte Entwicklung gibt es übrigens einen historischen Präzedenzfall. Während in den USA die Absätze von Schallplatten schon Mitte der 1980er stark einbrachen und von Audio-Kassetten verdrängt wurden, blieb der deutsche Schallplattenmarkt noch bis Ende der 1980er relativ stabil. Erst danach verdrängte die CD massiv die Schallplatte vom Markt. In den USA geschah das deshalb früher, weil man Kassetten problemlos im Auto anhören konnte, was aufgrund der wesentlich geringeren Entfernungen in Deutschland keine so große Rolle spielte.

Flexibilität ist gefragt

Als einziges physisches Format mit Wachstumsaussichten existiert im Augenblick die Schallplatte. Der Markt für Vinyl wächst in Deutschland wie in den USA – in den USA liegt der Anteil am Gesamtmarkt jedoch fast doppelt so hoch. Ob der deutsche Vinylmarkt dieselben luftigen Höhen erreicht wie der US-Markt, lässt sich schwer vorhersagen.

Vinyl füllt allerdings nicht nur eine Lücke bei denjenigen, die unbedingt "etwas in der Hand haben" wollen, sondern stellt für einen Teil der jüngeren Generation auch ein Lifestyle-Produkt dar. Wie lange dieser Trend anhalten wird, lässt sich nicht sagen, aber er zeigt im Augenblick kein Nachlassen – im Gegenteil. Aufgrund des vergleichsweise hohen Preises von Schallplatten ergeben sich für die Musikindustrie jedenfalls starke Wachstumsmöglichkeiten in diesem Segment.

Das gilt übrigens nicht nur für die Major Labels, sondern für kleine Labels und Bands. Der stetig wachsende Umsatz an Schallplatten macht dieses Format auch für Künstler attraktiv, die ein junges Publikum ansprechen, für die Musik mehr ist als lediglich der neuste Radio-Hit.

Noch wichtiger ist, die eigene Musik bei den großen Download- und Streamingportalen anzubieten. Am wichtigsten ist jedoch Flexibilität: Die große Krise der Musikindustrie war nicht zuletzt das Ergebnis ihrer starren Reaktion auf die digitale Revolution. 

Hinweis: Der Artikel wurde am 8. März um die endgültigen Zahlen des deutschen Musikmarkts für das Jahr 2015 ergänzt.

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