×

Viel Druck nach allen Seiten

Kulturverbände kritisieren neues Infektionsschutzgesetz – und offenbaren Schwächen

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 02.09.2022

infektionsschutzgesetz coronakrise kulturpolitik liveszene forum veranstaltungswirtschaft deutscher musikrat deutscher kulturrat deutsche orchestervereinigung

Kulturverbände kritisieren neues Infektionsschutzgesetz – und offenbaren Schwächen

Besucherinnen mit Masken bei einem Testkonzert in der Rockhal in Luxemburg. © Claude Piscitelli

Nachdem das Bundeskabinett das neue Infektionsschutzgesetz auf den Weg gebracht hat, fordern zahlreiche Kulturverbände Nachbesserungen. Ob sie aber mit ihrer Botschaft durchdringen, ist fraglich.

Das Infektionsschutzgesetz ist das Ergebnis von Verhandlungen zwischen den Bundesministeriums für Gesundheit (unter der Leitung von Karl Lauterbach, SPD) und des Bundesministeriums für Justiz (unter der Leitung von Marco Buschmann, FDP). Die Regelungen im Detail haben wir hier vorgestellt.

Der daraus resultierende Gesetzentwurf wurde weitgehend unverändert vom Kabinett gebilligt und soll im Verlauf des Septembers von Bundestag und Bundesrat beraten und beschlossen werden. Dabei ist Eile geboten, denn die neuen Regelungen sollen ab 1. Oktober gelten.

Rücksicht auf die Belange der Kultur

Der Entwurf berücksichtigt durchaus die Belange von Kultur- und Freizeiteinrichtungen, beispielsweise für den Fall, dass Bundesländer eine Maskenpflicht in Innenräumen beschließen – was keineswegs sicher ist, denn niemand kann die Länder dazu zwingen.

Falls ein Bundesland eine Maskenpflicht beschließt, sieht das Infektionsschutzgesetz zwingende Ausnahmen von der Maskenpflicht in Innenräumen für frisch getestete Personen bei Kultur-, Sport- und Freizeitveranstaltungen vor. 

Außerdem können die Bundesländer weitere Erleichterungen für innerhalb der letzten drei Monate genesene oder geimpfte Personen beschließen.

Forderung nach bundeseinheitlichen Regeln

Viele Kulturverbände kritisieren, dass die Maßnahmen für den Kulturbereich weitgehend in der Verantwortung der Bundesländer liegen und "bundeseinheitliche Vorgaben" weitgehend fehlen. 

Das Forum Veranstaltungswirtschaft fordert beispielsweise, dass "die Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen klaren und verbindlichen Kriterien" folgen müsse, was im Entwurf nicht gegeben sei. 

Der Deutsche Musikrat spricht sich in einer Pressemitteilung ebenfalls "für eine stärkere Gewichtung bundeseinheitlicher Regelungen" aus und drängt auf Änderungen im Verlauf der parlamentarischen Beratungen. Die Deutsche Orchestervereinung (DOV) und der Deutsche Kulturrat fordern ebenfalls, dass eine eventuelle Maskenpflicht vom Bund und nicht von den Ländern geregelt wird.

Wann ist das Gesundheitssystem gefährdet?

Während die Bundesländer die oben erwähnte Maskenpflicht mit Ausnahmen ab 1. Oktober ohne die Voraussetzung weiterer Umstände treffen können, dürfen sie erst bei "konkreter Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems" eine ausnahmslose FFP2-Maskenpflicht in Innenräumen und bei Freiluftveranstaltungen verhängen und Personenobergrenzen für Veranstaltungen festlegen. 

Zu Recht fragt das Forum Veranstaltungswirtschaft, wie festgelegt werden soll, wann eine solche Gefährdung tatsächlich vorliegt. Damit benennt das Forum ein wichtiges Defizit des aktuellen Gesetzentwurfs, der diese Entscheidung anhand "gesetzlich geregelter Indikatoren" treffen will, diese aber nicht festgelegt hat.

Forderungen zur Maskenpflicht

Eine allgemeine Maskenpflicht bei Veranstaltungen ist – wie gesagt – erst vorgesehen, wenn die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gefährdet ist. Das hält die Kulturverbände aber nicht davon ab, eigene Ideen zu entwickeln.

Der Deutsche Kulturrat sieht eine Maskenpflicht bei hohen Infektionszahlen als Möglichkeit, eventuelle Kapazitäts-Einschränkungen zu verhindern und will daher die Maskenpflicht bundeseinheitlich regeln und "hygienezertifizierten Einrichtungen" Ausnahmen im Hinblick auf mögliche Personenobergrenzen ermöglichen. Außerdem sollten "Kultureinrichtungen" die Möglichkeit erhalten, "qua Hausrecht eine Maskenpflicht in Innenräumen vorgeben zu können."

Der Deutsche Musikrat lehnt eine Maskenpflicht im Freien grundsätzlich ab, während er sich zur Maskenpflicht in Innenräumen nicht äußert. Zugleich spricht er sich für "höhere Hürden für die Zugangsbeschränkungen öffentlicher Begegnungsorte" aus.

Verwirrung bei der DOV

Eine ganz andere Richtung schlägt die ganz auf die Klassik ausgerichtete Deutsche Orchestervereinigung (DOV) ein. Sie erklärt, aufgrund der Ausnahmen für "frisch Geimpfte" seien bei hohen Inzidenzen Einschränkungen der Sitzplatzkapazitäten in Konzertsälen und Opernhäusern vorprogrammiert. 

Das Infektionsrisiko gehe aber gegen Null, wenn das "gesamte Publikum in Sälen mit fester Bestuhlung konsequent Masken" tragen würde. Daher fordert die DOV – wenn wir die etwas verworren argumentierende Pressemitteilung richtig verstehen – eine bundeseinheitliche Regelung der Maskenpflicht mit strengeren Vorgaben als bisher vorgesehen. 

Diese Argumentation verdeutlicht die Gefahr, nur die eigene, kleine Welt zu sehen und nicht den Kulturbetrieb als Ganzes. Während eine Maskenpflicht bei Klassikkonzerten sicherlich durchsetzbar und auch dem Publikum vermittelbar wäre, ist sie bei zahlreichen anderen Kulturveranstaltungen weitaus schwerer umzusetzen – oder gar völlig unpraktikabel, wie beispielsweise in Diskotheken.

Wenn der Bundesgesetzgeber wirklich eine ausnahmslose Maskenpflicht in Innenräumen beschließen würde, dann wäre die Klassik nur teilweise betroffen, der Betrieb in Clubs und Diskos wäre aber quasi lahmgelegt – was die DOV offensichtlich nicht stören würde.

Probleme der Vielstimmigkeit

Diese Übersicht zeigt: Im Hinblick auf die Maskenpflicht erheben alle Verbände unterschiedliche oder nur teilweise deckungsgleiche Forderungen. 

Diese Vielstimmigkeit ist sicher nicht geeignet, die Durchsetzungsfähigkeit der Kulturverbände im politischen Prozess zu erhöhen. 

Düstere Farben

Diese Lage ist umso bedauerlicher, als alle Verbände die tiefe Krise der Kulturbranche betonen und die Zukunft in düsteren Farben malen, wenn das Infektionsschutzgesetz unverändert in Kraft treten sollte. Der Deutsche Musikrat warnt sogar vor einem "Kollaps des Kulturlebens", sollte der Bundesgesetzgeber keine "Kurskorrektur" vollziehen. 

Prof. Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates schlägt denselben Tenor ein: 

"Das Kulturleben wie der Sport sind in den letzten zweieinhalb Jahren personell wie strukturell stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Diese nachhaltige Schwächung, zusätzlich belastet durch hohe Energiekosten, Inflation und Zuschauerschwund, bedarf der Ermöglichung kultureller Begegnungen. Der jetzt vorhersehbare föderale Flickenteppich pandemiebedingter Restriktionen würde die Planung sowohl von Tourneen als auch von vielen Veranstaltungen verhindern."

Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates fordert ebenfalls eine "kulturfreundliche" Umgestaltung des Infektionsschutzgesetzes:

"Nach zwei verheerenden Corona-Jahren mit massiven Einschränkungen bzw. Schließungen ist es dringend erforderlich, dass der Kulturbereich auch unter den Bedingungen einer weiterhin bestehenden Corona-Pandemie weiterarbeiten kann. Ansonsten wird vielen Kultureinrichtungen das wirtschaftliche Aus drohen und viele Kulturangebote in Deutschland künftig dauerhaft fehlen."

Kurswechsel, aber wohin?

Aber welche Änderungen wären sinnvoll, um das neue Infektionsschutzgesetz "kulturfreundlicher" zu machen? Selbst die Kulturverbände geben darauf keine eindeutige oder sogar einheitliche Antwort. 

Ein Politiker, der versuchen würde, die unterschiedlichen Äußerungen und Forderungen der Verbände unter einen Hut zu bringen, stünde vor einer schwierigen, vielleicht sogar unlösbaren Aufgabe. 

Nach mehr als zwei Jahren Pandemie gelingt es der Kulturbranche nach wie vor nicht, klar strukturierte Stellungnahmen mit eindeutigen Forderungen zu veröffentlichen, die zwischen den verschiedenen Verbänden abgesprochen sind. Dass ein koordiniertes Vorgehen nach zweieinhalb Jahren Pandemie immer noch nicht geschieht, schadet allen Kulturschaffenden.

Die Branche dringt nicht durch

So sehr viel Vielstimmigkeit der Kultur das menschliche Leben bereichert, im politischen Diskurs wird sie zum Problem. Dass die Kulturverbände aktuell mit ihren Forderungen nicht durchdringen, zeigt auch eine Anhörung zum Infektionsschutzgesetz im Deutschen Bundestag.

Abgesehen von einer kurzen Stellungnahme des Deutschen Kulturrats (die ausführliche Version ist hier) fanden die Belange der Kulturbranche in den Beratungen keinen Widerhall. Das zeigt wie schwierig es sein wird, Hilfen zu erhalten, wenn es im Herbst und Winter 2022/23 zu pandemiebedingten Einschränkungen im Kulturbereich kommen sollte.

Ähnliche Themen

Clubkombinat fordert Sofortprogramm zur Unterstützung der Clubkultur im Winter 2022/23

"Rettet die Clubkultur – The Show Must Go On"

Clubkombinat fordert Sofortprogramm zur Unterstützung der Clubkultur im Winter 2022/23

veröffentlicht am 05.10.2022

Bundesregierung führt neues Hygienezertifikat für Kulturorte ein

Nachhaltige Stabilisierung der Branche?

Bundesregierung führt neues Hygienezertifikat für Kulturorte ein

veröffentlicht am 21.09.2022   6

Bundeskabinett beschließt neues Infektionsschutzgesetz

Kleinere Änderungen

Bundeskabinett beschließt neues Infektionsschutzgesetz

veröffentlicht am 26.08.2022   12

Newsletter

Abonniere den Backstage PRO-Newsletter und bleibe zu diesem und anderen Themen auf dem Laufenden!