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"Wir müssen in den Nachwuchs investieren"

Lichttechniker Carsten Will über Selbstständigkeit, Fachkräftemangel und Reformen der Ausbildung zum Veranstaltungstechniker

Interview von Daniel Nagel
veröffentlicht am 28.10.2022

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Lichttechniker Carsten Will über Selbstständigkeit, Fachkräftemangel und Reformen der Ausbildung zum Veranstaltungstechniker

Carsten Will. © Julia Schwendner

Carsten Will ist seit mehr als 30 Jahren selbstständiger Lichttechniker. Im Interview spricht er über die aktuelle Lage der Veranstaltungswirtschaft und um seine Bemühungen, jungen Veranstaltungstechnikern den Einstieg in die Branche zu erleichtern.

Backstage PRO: Hallo Carsten, du hast eine eigene Firma mit dem Namen Production and Performance Technology. Was genau machst du?

Carsten Will: Ich bin ein Ein-Mann-Unternehmen. Ich habe jahrzehntelang als Lichttechniker gearbeitet, beispielsweise 19 Jahre lang für Die Toten Hosen. Ich war auf Tour mit Deep Purple, Simply Red, Mando Diao, habe unzählige Einzel-Gigs gemacht und war bei den Eröffnungs- und Abschlussfeiern mehrerer Olympischer Spiele. Im Grunde habe ich auf jedem Kontinent gearbeitet, im letzten Jahrzehnt vorwiegend als Technischer Leiter. 

Backstage PRO: Und das machst du aktuell immer noch?

Carsten Will: Gerade in diesem Jahr habe ich angefangen, mich mit dem Thema Produktionsleitung auseinanderzusetzen. Bisher war ich immer in der glücklichen Lage, als Techniker oder TL zu sagen: "Ich brauche das und ich brauche es jetzt". Dieses Jahr stand ich erstmals auf der anderen Seite und musste mir genau diese Sätze anhören. 

Backstage PRO: Wie schwer fiel dir die Umstellung?

Carsten Will: Die Umstellung war nicht leicht, da ich meine Techniker-Sichtweise ablegen musste. Die Arbeitsweise eines Produktionsleiters muss man erlernen. Das geht eigentlich nur auf dem Job, indem man jemanden beobachtet, der dir zeigt, wie es läuft. Daher nehmen die Produktionsleiter in einigen Betrieben inzwischen Azubis mit, um sie an diese Aufgaben heranzuführen. Früher gab es das nicht.

Backstage PRO: Warum hast du diesen Schritt unternommen?

Carsten Will: Ich habe ein Angebot bekommen und dachte, das sei vielleicht aufgrund des Personalmangels nicht schlecht. Der Personalmangel existiert nicht nur im Helfer- oder Techniker-Bereich, sondern zieht sich hoch bis in die Produktionsleitung. 

"Wir hatten früher wesentlich mehr Spielraum, um Sachen auszuprobieren"

Backstage PRO: Was ist die größte Herausforderung in der Produktionsleitung?

Carsten Will: Meistens treten die Probleme unerwartet auf. Der LKW ist auf halber Strecke liegen geblieben, hat aber wichtiges Material geladen, das für den Aufbau benötigt wird. Solange das Material nicht vor Ort ist, haben andere Gewerke Baustopp. Die Aufgabe des Produktionsleiters besteht darin, auf diese Situation zu reagieren und nach Möglichkeiten zu suchen, das Problem zu lösen. Dafür benötigt man Erfahrung und Kontakte und als Berufsanfänger hat man die nicht. 

Backstage PRO: Wie hat sich die Aufgabe im Verlauf der Jahre gewandelt?

Carsten Will: Zeitfenster sind enger geworden, die Budgets sinken. Wir hatten früher wesentlich mehr Spielraum, um Sachen auszuprobieren. Selbst wenn etwas danebenging, haben wir etwas daraus gelernt. Die Gelegenheit, Fehler zu machen, fehlt heute. 

"Die Veranstaltungsbranche hat sich lange auf die Selbstständigen verlassen"

Backstage PRO: Du bist in der ISDV aktiv. Was ist das genau?

Carsten Will: Das Ziel der Interessengemeinschaft der selbständigen DienstleisterInnen in der Veranstaltungswirtschaft (ISDV) besteht darin, als Sprachrohr für die Selbstständigen zu fungieren, die ansonsten über keine Lobby verfügen. Die Veranstaltungsbranche hat sich lange auf die Selbstständigen verlassen, und erst als die Bundesregierung gegen Scheinselbstständigkeit vorgegangen ist und Statusfeststellungsverfahren eingeführt hat, haben die Betriebe angefangen, Leute einzustellen. Ich bin aber nach wie vor mit Leib und Seele selbstständig und werde meine Selbstständigkeit mit Klauen und Zähnen verteidigen.

Backstage PRO: Wie hast du als überzeugter Selbstständiger die Coronakrise erlebt?

Carsten Will: Anfangs war das ein ganz schöner Tiefschlag. Ich hatte über Nacht ein de facto  Berufsverbot. In dieser Lage musste ich auf meine Rücklagen zurückgreifen, die aber natürlich nicht für einen solchen Fall vorgesehen waren. Ohne meine Rücklagen hätte ich es aber nicht geschafft. Es war relativ klar, dass ich mir eine andere Beschäftigung suchen muss und habe dann im Impfzentrum in Hamburg einen Job im Venue-Management angenommen. Von den elf Leuten, die dort arbeiteten, stammten neun aus der Veranstaltungswirtschaft. Ob wir Leute organisieren, die Cases oder Impflinge durch die Gegend schubsen, ist logistisch kein großer Unterschied (lacht). Das hat auch sehr viel Spaß gemacht. Nach einem Vierteljahr hat das Impfzentrum aber wieder geschlossen.

Backstage PRO: Was hast du dann gemacht? 

Carsten Will: Als das Impfzentrum schloss, bin ich nicht darum gekommen, Grundsicherung (also Hartz-IV) zu beantragen. Ich habe aber nicht meine volle Miete und meinen vollen Krankenkassenbeitrag bekommen und musste wieder auf meine Rücklagen zurückgreifen. Nach 30 Jahren Selbstständigkeit musste ich die Hand aufhalten: Das fühlte sich ganz schön scheiße an und hat mich auch mental belastet. Nach drei Monaten bin ich wieder raus aus Hartz IV, weil es sich einfach falsch angefühlt hat. Ich habe mich dann auch gleich sehr viel besser gefühlt.

Backstage PRO: Wie ist die Auftragslage jetzt?

Carsten Will: Die Auftragslage ist unfassbar gut, weil wir ungefähr ⅔ unserer selbstständigen Kollegen während der Pandemie verloren haben. Die Selbstständigen mussten natürlich nach wie vor ihre Miete und ihre Rechnungen bezahlen und sind branchenfremd abgewandert. Auf einmal waren sie am Wochenende bei ihrer Familie und wenn sie am Wochenende arbeiten mussten, erhielten sie Extra-Geld. Wenn sie krank waren oder Urlaub machten, kam das Geld trotzdem. Außerdem war die erwartete Arbeitsleistung geringer. Viele abgewanderte Kollegen sagen mir: "So einfach habe ich mein Geld noch nie verdient." Manchmal gibt es sogar Ärger mit den Kollegen, die sagen: "Mach nicht so schnell, du versaust uns den Schnitt". Wenn wir so arbeiten würden, fände nicht ein Konzert statt.

"Wir haben jahrzehntelanges Know-How verloren"

Backstage PRO: Von welchen Branchen reden wir?

Carsten Will: Ein Kollege arbeitet jetzt als Elektriker und Hausmeister. Andere sind in die Logistik abgewandert, Trucker arbeiten in Festanstellung bei Speditionen. Diese Fachkräfte sind weg - und die werden auch nicht wiederkommen. Mit ihnen haben wir jahrzehntelanges Know-How verloren. Dadurch stehen diejenigen, die noch dabei sind, vor der Situation, die Jobs für zwei oder drei Leute zu erledigen. Die Nachfrage ist wesentlich höher als das Angebot. Daher haben wir die Chance, ein historisches finanzielles Unrecht geradezurücken und die Tagesgagen anzuheben. 

Backstage PRO: Wie weit kann man da gehen?

Carsten Will: Wer einen Tagessatz von 600 Euro fordert, wird keine Jobs bekommen, denn das Budget ist einfach nicht da. Man darf nicht zu gierig werden. Wer seinen Tagessatz um 100 Euro erhöht, sollte es beispielsweise so machen, dass er 50 Euro sofort mehr verlangt und seinen Kunden gegenüber ankündigt, einige Monate später seine Tagessätze noch einmal um 50 Euro zu erhöhen. Damit können die Kunden planen und kalkulieren. Auf diese Weise können wir uns langsam aus der Billiglohn-Situation befreien. Wir sind gut ausgebildete Fachkräfte und sollten entsprechende Tagessätze verlangen.

"Wir arbeiten dann, wenn andere Leute frei haben."

Backstage PRO: Es ist ja auch in Hinblick auf den Lebensstil kein leichter Job.

Carsten Will: Ich habe im Verlauf der Jahrzehnte viele Kollegen verloren, teilweise durch Suizid, aber auch durch Alkohol- oder Drogensucht, Depressionen. Das Thema "mental health" wird in der Veranstaltungswirtschaft viel zu selten behandelt, obwohl es inzwischen mehr Bemühungen in diese Richtung gibt. Die Probleme haben etwas mit der Schnelllebigkeit während der Produktion zu tun - für persönliche Probleme ist herzlich wenig Zeit, wenn um 16 Uhr Soundcheck ist und um 19 Uhr die Türen aufgehen. Wer 2-3 Monate auf Tour ist und dann anschließend in die leere, kalte Wohnung nach Hause kommt, fällt häufig in ein Loch. Das passiert vor allem dann, wenn er oder sie nicht durch Familie oder Partner aufgefangen wird, was leider häufig der Fall ist, denn der Job ist einem vernünftigen Sozialleben nicht zuträglich.

Backstage PRO: Vieles wird sich ja auch nicht ändern lassen. Die Konzerte werden weiterhin am Abend oder am Wochenende stattfinden.

Carsten Will: Wir arbeiten dann, wenn andere Leute frei haben. Dafür haben wir andere Vorzüge. Wir machen das nicht wegen des Geldes, unsere Motivation ist eine andere. Für manche ist es die Musik, für manche die Branche allgemein. 

Backstage PRO: Wie sieht deine Motivation aus?

Carsten Will: Wenn ich am FOH stehe, das Hauslicht geht aus und um mich herum flippen 10.000 Leute aus, ist das ein unvergleichliches Erlebnis. Der zweite Gänsehautmoment ist dann, wenn das Konzert zu Ende geht, das Licht angeht und du nur in strahlende Gesichter blickst. Etwas Vergleichbares erlebst du in keinem anderen Job.

Backstage PRO: Du engagierst dich auch in der Ausbildung von Veranstaltungstechnikern. Wie kam es dazu?

Carsten Will: Der ISDV ist auf mich zugekommen, da Veranstaltungstechniker in der Pandemie einen Discord-Server namens CrewCall ins Leben gerufen haben. Ursprünglich war das als Möglichkeit gedacht, sich mit den Kollegen während der Pandemie wenigstens virtuell zu treffen. Der CrewCall war aufgebaut wie ein virtuelles Venue, es gab einen Ton FOH, Licht FOH, Nightliner und weiteres, sowie einzelne Chatrooms mit Videofunktion. Obwohl wir nicht auf Tour waren, konnten wir uns so austauschen und sicherstellen, dass es uns gut geht und uns gegenseitig bei Anträgen für die Überbrückungshilfe oder anderem zu unterstützen. 

"Wir versuchen die Kluft zwischen Jobanfängern und 'alten Hasen' zu reduzieren"

Backstage PRO: Wie kamen die Azubis ins Spiel?

Carsten Will: Auf diesem Discord-Server hat mich eine Gruppe von Auszubildenden im dritten Lehrjahr angesprochen, die seit einem Vierteljahr keinen Präsenzunterricht in der Berufsschule mehr hatte und auch keine Erfahrung sammeln konnte, da keine Gigs stattfanden. Dennoch wurde von ihnen erwartet, dass sie ihre Abschlussprüfung machen. Gemeinsam mit Kollegen habe ich beschlossen, ihnen zu helfen und ihnen bei der Prüfungsvorbereitung zu helfen. Später kam die ISDV auf mich zu und hat mir angeboten, für die ISDV als Beauftragter für Ausbildung und Ausbildungsberufe tätig zu sein. Außerdem bin ich Verbindungsmann der ISDV zur Interessengemeinschaft Veranstaltungswirtschaft (IGVW).

Backstage PRO: Was kann man gegen den massiven Mangel an Technikern machen?

Carsten Will: Die einzige Möglichkeit, diese Lücke zu schließen, besteht meines Erachtens darin, sich verstärkt um den Nachwuchs zu kümmern. Ich engagiere mich auch für die Auszubildenden, damit es den Job, den ich liebe, auch noch in Zukunft gibt. 

Backstage PRO: Was muss sich in der Veranstaltungswirtschaft ändern?

Carsten Will: Es gab bisher eine Kluft zwischen Jobanfängern und "alten Hasen". Wir versuchen, diese Kluft zu vermindern und den Zugang zum Know-How zu erleichtern. Der Nachwuchs soll auf unseren Erfahrungspool zugreifen können, indem sie uns kontaktieren, wenn sie in einer schwierigen Lage sind. Oder sie können eben CrewCall nutzen. In einer halben Stunde haben sie fünf Antworten. Es ist eine Art Mentorenfunktion. 

Backstage PRO: Gab es bislang keine Strukturen, um den Berufsanfängern den Einstieg zu erleichtern?

Carsten Will: Bisher hat man sich eben auf die Selbstständigen verlassen. Jedes Jahr haben Azubis ihre Ausbildung abgeschlossen und da sie nirgendwo eingestellt wurden, haben sie sich selbstständig gemacht. Das war das Prinzip "learning by doing". Das ist die Definition von Einzelkämpfertum. Das funktioniert aber nicht, wie wir jetzt sehen. Übrigens ist das aber auch der Grund für die steigenden Löhne und Tagessätze. 

Backstage PRO: Wie meinst du das?

Carsten Will: Ein Veranstalter wird sicherlich jemanden finden, der den Job billiger erledigt als ich. Aber am Ende wird er vermutlich draufzahlen müssen, weil ich über 30 Jahre Berufserfahrung verfüge und weiß, wie ich Probleme löse. Und falls nicht, rufe ich einen Kollegen an. Ein Berufsanfänger verfügt aber nicht über vergleichbares Wissen oder entsprechende Kontakte. Meine Erfahrung ist ein Teil des Deals, wenn du mich buchst – aber die gibt es nicht umsonst.

Backstage PRO: Was motiviert eigentlich die Azubis, sich zum Veranstaltungstechniker ausbilden zu lassen?

Carsten Will: Es gibt sehr viele junge Leute, die wollen direkt ans Pult. Die eine oder andere Seifenblase muss ich definitiv zum Platzen bringen, da ich darauf bestehe, dass beispielsweise ein Lichtoperator weiß, wie die Lampe funktioniert, damit er sie nicht in Grenzbereiche reinfährt, die sie nicht aushält - und so seinen Kollegen viel Arbeit verursacht. Es müssen also die Grundlagen geschaffen werden - und zwar in allen Gewerken. Die Azubis lassen sich ja zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik ausbilden und nicht zur Fachkraft für Licht oder Ton. Natürlich können sie sich später spezialisieren, denn Kollegen, die mehrere Gewerke bedienen, sind die Ausnahme. 

"Wir müssen in den Nachwuchs investieren"

Backstage PRO: Wie empfindest du die jungen Auszubildenden?

Carsten Will: Ungefähr ein Drittel der Auszubildenden bricht die Ausbildung im ersten Lehrjahr ab, weil die Ausbildung nicht ihren Erwartungen entspricht. Auf jeden Fall hat die jüngere Generation andere Prioritäten und legt sehr viel Wert auf Nachhaltigkeit. Leider sind wir kein besonders nachhaltiger Wirtschaftszweig, was man auf jedem Festival an Generatoren sieht, die eine Woche mit Diesel durchrattern. Wir müssen andere Bereiche suchen, wo wir nachhaltiger werden können. Diese Herausforderung wird nicht an uns vorbeigehen.

Backstage PRO: Wie siehst du die Zukunft der Veranstaltungswirtschaft?

Carsten Will: Wir müssen in die Zukunft investieren und das heißt, in den Nachwuchs zu investieren. Wir müssen an der Ausbildung feilen und dafür sorgen, dass die jungen Leute besser ausgebildet werden. Nur so werden wir es schaffen, unsere Fachkräfte für die Zukunft fit zu machen. Jede Firma, die das nicht so sieht, wird schweren Zeiten entgegengehen.

Backstage PRO: Herzlichen Dank für das Gespräch!

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