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Zur Förderung eines "florierenden Ökosystems"

Deezer und Universal führen "künstlerzentriertes" Streaming-Modell ein

Spezial/Schwerpunkt von Antonia Freienstein
veröffentlicht am 20.09.2023

streaming universal deezer

Deezer und Universal führen "künstlerzentriertes" Streaming-Modell ein

© Andrea Piacquadio via pexels.com

Das aktuell auf den meisten Streaming-Diensten gängige Pro-Rata-Abrechnungsmodell erntet immer wieder Kritik. Mit einem "künstlerzentrierten" Abrechnungsmodell wollen die Universal Music Group und der Streaming-Dienst Deezer künftig neue Wege gehen.

Bereits Anfang 2023 erklärte Universal-CEO Lucian Grainge seine Unzufriedenheit mit dem aktuellen Pro-Rata-Abrechnungsmodell der Streaming-Dienste. Trotz zahlreicher Reformvorschläge und -Forderungen änderte sich bisher aber nichts.

Einführung zunächst in Frankreich

Jetzt kündigen Universal und Deezer an, mit einem künstlerzentrierten Modell einen ersten Schritt für eine umfassende Neuordnung der Verteilung von Streaming-Erlösen zu gehen. Deezer-CEO Jeronimo Folgueira bezeichnet die Pläne als “ambitionierteste Veränderung des Wirtschaftsmodells seit Einführung des Musikstreamings”.

Deezer wird das künstlerzentrierte Abrechnungsmodell im vierten Quartal 2023 zunächst in Frankreich auf den Markt bringen, die Einführung in weiteren Märkten sei jedoch bereits vorgesehen. 

"Gleichwertig" ist nicht immer "fair"

Nach dem derzeit auf Streaming-Plattformen dominierenden Pro-Rata-Auszahlungsmodell werden alle auf einer Streaming-Plattform verfügbaren Tracks gleichwertig entlohnt. Angesichts der großen Menge an Audiodateien, die Streaming-Plattformen aktuell zu überfluten, sieht Folgueira dieses Modell kritisch.

"Es gibt keine andere Branche, in der alle Inhalte gleich viel wert sind, und es sollte jedem klar sein, dass das Geräusch von Regen oder einer Waschmaschine nicht so wertvoll ist wie ein Lied des Lieblingsartists, das in Hi-Fi gestreamt werden kann."

"Doppelter Boost" für reale Künstler*innen

Das neue künstlerzentrierte Modell will eine Unterscheidung zwischen von Künstler*innen geschaffener Musik und solchen "Geräuschen" schaffen. Insgesamt lassen sich dabei vier hauptsächliche Veränderungen im Vergleich zu Deezers bisherigen Auszahlungsmodell feststellen. 

Zum einen bewertet Deezer diejenigen Künstler*innen, die im Monat mindestens 1000 Streams und 500 Hörer*innen verzeichnen als "professionelle Künstler*innen" und verleiht ihnen einen sog. "doppelten Boost". Dadurch sollen Künstler*innen für qualitative Inhalte und das dadurch generierte Fan-Engagement besser entlohnt werden. 

Songs von Künstler*innen, nach denen Fans aktiv gesucht haben, sollen zusätzlich durch einen "doppelten Boost" gefördert werden. Insgesamt könnten populäre, real existierende Künstler*innen damit einen "vierfachen Boost" erhalten. Das hätte den Effekt den Einfluss algorithmisch produzierter Programme zu reduzieren.

Viele Unklarheiten

Wie genau die von Deezer und Universal angekündigten "Boosts" funktionieren sollen, ist noch nicht völlig klar. Das Online-Magazin Music Business Worldwide erfuhr jedoch von einem Sprecher von UMG, dass die Gesamtausschüttung an Tantiemen unverändert bleiben wird. Die Tantiemen würden aber neu aufgeteilt und real existierende Künstler bevorzugt.

Der sog. "doppelte Boost" bezieht sich nicht auf die Höhe der Lizenzgebühren eines Künstlers oder einer Künstlerin, sondern auf die Anzahl der Streams. Das dadurch erzielte höhere Volumen an Streams soll jedoch dazu führen, dass diese Künstler*innen einen höheren Anteil an den Gesamtlizenzgebühren erhalten.

Das künstlerzentrierte Modell geht also wie das Pro-Rata-Modell vom Anteil eines Acts an der Gesamtzahl aller Streams aus, belohnt aber menschliche Schöpfer*innen durch einen "Wertigkeitsfaktor" in Form des doppelten Boosts.

Es stellt sich natürlich die Frage, wie der Streaming-Dienst Deezer feststellen will, bei wem es sich um echte Künstler*innen handelt und welche Content-Produzent*innen nur Geräusche hochladen. Datenanalyse kann sicher bei der Feststellung helfen, aber ohne nähere Informationen bleibt dieser Aspekt eine große Unbekannte.

Abwertung von Geräuschen

Deezer und Universal planen aber nicht nur, Inhalte professioneller Künstler*innen zu bevorzugen, gleichzeitig sollen auch "Geräusche" oder andere Inhalte ohne kreativen Impuls abgewertet werden.

Dazu plant Deezer "non-artist noise audio"-Content, also beispielsweise Meeresrauschen, White Noise oder sonstige Geräusche, durch eigene funktionale Musik zu ersetzen. Diese Musik soll bei der Auszahlung an Tantiemen nicht berücksichtigt werden.

Zudem soll ein verbessertes System zur Erkennung und Vorbeugung von Streaming-Betrug eingeführt werden, das die Streaming-Einnahmen von Künstler*innen schützen soll. Aktuell werden massenhaft Bots eingesetzt, um möglichst viele Streams für einen Künstler oder eine Künstlerin (und damit Einnahmen) zu generieren. 

Wenn Deezer diese Maßnahmen umsetzt, wird sich der Tantiemen-Pool für menschliche Schöpfer*innen dennoch vergrößern, da die Erschaffer*innen von Geräuschen und anderer "non-artist noise audio"-Inahlten keine Ausschüttungen für Streams erhalten.

Allerdings stellt sich auch hier die Frage, wie Deezer zwischen verschiedenen Inhalten differenzieren will und ob es wirklich realistisch ist "non-artist noise audio"-Content komplett durch eigene Kreationen zu ersetzen. Auch hier liegen keine Informationen vor, wie diese Pläne genau umgesetzt werden sollen.

Besonders interessant wäre in diesem Zusammenhang der Umgang mit rein KI-generierter Musik, aber diese wird in der Ankündigung gar nicht erwähnt.

Lob und Bedenken

Das in Kooperation von Deezer und der UMG entstandene Modell, das zunächst als Fortschritt zum bisherigen Pro-Rata-Modell erscheint, ist jedoch nicht überall auf einheillige Zustimmung gestoßen.

So meldete sich inzwischen etwa IMPALA, die europäische Independent Music Companies Association zu Wort. In einem Statement weist sie darauf hin, dass sie Bemühungen begrüße, die Debatte über die Reform des Streaming-Marktes zu intensivieren. Die Vorschläge von Deezer und UMG stimmten mit den von IMPALA formulierten Plan überein, um in zehn Schritten das Beste aus dem Streaming herauszuholen:

"Das Engagement von Deezer im Kampf gegen Streaming-Betrug ist zu begrüßen, da dieser die Branche plagt und Einnahmen von Künstler*innen und Urheber*innen entzieht. Die Steigerung des Wertes von Musik und die Erhöhung der Vielfalt sind Kernpunkte des Streaming-Plans von IMPALA, und wir begrüßen, dass Deezer ähnliche Ziele verfolgt."

Jedoch äußert IMPALA auch Bedenken. So sorgt sich die Organisation, dass das "künstlerzentrierte Modell" zu einem Zwei-Klassen-Ansatz führen könnte, der sich negativ auf die Arbeit unabhängiger Labels und deren Künstler*innen auswirken könnte (insbesondere solche mit Nischenpublikum, Newcomer und Künstler*innen aus eher abgelegenen Teilen der Welt). Die britische Indie-Organisation AIM hat vergleichbare Bedenken.

Drohendes Zweiklassensystem?

Besorgniserregend sei zudem die Tatsache, dass das Modell von Deezer gemeinsam mit dem Marktführer UMG und nicht mit den übrigen Major Labels gemeinsam entwickelt worden sei – von den Indie-Labels und den unabhängigen Musikproduzent*innen ganz zu schweigen. Solange andere Interessengruppen nicht zustimmten, sieht IMPALA keine Möglichkeit, wie das Modell außerhalb des UMG-Repertoires angewendet werden könne.

Die fehlende Mitwirkung anderer Major Labels ist fraglos eines der größten Probleme des "künstlerzentrierten" Abrechnungsmodells und einer dauerhaften Reform der Streaming-Abrechnungen. Es stellt sich die Frage, wie es funktionieren kann, die Streaming-Einnahmen für einen Teil der Labels bzw. Künstler*innen auf eine Weise zu verteilen und für einen anderen Teil auf eine andere Weise.

Ein erster Schritt mit vielen Fragezeichen

Ob und inwieweit sich das neue Streaming-Modell von Deezer und UMG als erfolgreich für Künstler*innen erweist, bleibt unklar. Vielversprechend erscheint grundsätzlich der Ansatz gegen reine Geräusche oder ohne jeden künstlerischen Impuls erzeugte Inhalte vorzugehen. Streams von "echten Künstler*innen" durch einen besonderen Faktor besserzustellen, könnte ebenfalls ein probates Mittel sein – trotz aller Fragen hinsichtlich der Umsetzung.

Unverändert bestehen bleiben jedoch andere Probleme der Streaming-Ökonomie, wie die Tatsache, dass Songs schon im Entstehungsprozess auf die Optimierung der Streaming-Einnahmen ausgerichtet werden. 

So sind Songs in den letzten Jahren durchschnittlich immer kürzer geworden. Durch sehr kurze Songs lassen sich auf diese Art und Weise in einem bestimmten Zeitraum mehr Streams als durch längere Tracks generieren.

Zudem wird ein Stream etwa auf Spotify dann als Stream gewertet, sobald ein Nutzer oder eine Benutzerin ihn 30 Sekunden lang gehört hat. Häufig werden Songs nun so konzipiert, dass direkt in den ersten paar Sekunden die Hook aufgegriffen wird, um Hörer*innen direkt mit einer eingängigen Melodie zu überzeugen.

Ryan Rauscher fasste das im Interview mit uns folgendermaßen zusammen:

“Neben der finanziellen Perspektive hat jedes Abrechnungsmodell stets Auswirkungen auf den kreativen Prozess: Je nach Modell werden unterschiedliche Anreize gesetzt, die sich auch auf Songwriting, Producing und beispielsweise Arbeiten im Artist und Repertoire-Bereich auswirken. Bei Pro-Rata wird lediglich die Maximierung von Streams finanziell belohnt - alles andere ist im Prinzip für die Vermögensverteilung egal.”

Künstlerzentriert oder benutzerzentriert?

In seinem Interview stellte Rauscher ein sogenanntes benutzerzentriertes Lizenzmodell vor, das sich vom künstlerzentrierten Modell von Deezer und Universal unterscheidet.

Beim benutzerzentrierten Modell werden die Erträge, die über einen Nutzer bzw. eine Nutzerin generiert werden, dem Hörverhalten nach proportional die von ihm oder ihr gehörten Künstler*innen verteilt.

Macht ein Act also etwa 50% der Streams eines Nutzers oder einer Nutzerin aus, erhält dieser auch 50% der entsprechenden Abo-Gebühren des Nutzers oder der Nutzerin. 

Vorteile und Nachteile

Der Vorteil eines userzentrierten Verteilungsmodells besteht darin, dass diejenigen Künstler*innen das Geld erhalten, die der User auch tatsächlich hört. Damit besitzt es eine gewisse Ähnlichkeit zu einem Tonträgerkauf.

Während das künstlerzentrierte Modell von Deezer und Universal Künstler*innen durch Einführung eines Faktors zu stärken beabsichtigt, würde sich das nutzerzentrierte Modell an den Hörgewohnheiten der User orientieren.

Damit würden Anreize wegfallen, Tracks möglichst kurz zu halten oder Streamingzahlen in die Höhe zu treiben. Was geschehen würde, wenn ein Premium-User tatsächlich nur Geräusche zum Entspannen oder Einschlafen hört, ist allerdings unklar.

Auf der anderen Seite belässt das künstlerzentrierte Modell die Anreize zu kurzen Tracks oder dem Steigern von Streamingzahlen bei, so dass die Motivation, Streamingzahlen durch betrügerische Methoden künstlich in die Höhe zu treiben, unverändert hoch bleiben dürfte.

Welchem Modell die Zukunft gehört, ist aktuell unklar. Eventuell wäre es sinnvoll, beide Modelle zu kombinieren. Die Debatte darüber geht bisweilen weiter.

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