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Ganz neue Töne

Universal-CEO Grainge kritisiert Abrechnungsmodell der Streaming-Dienste

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 20.01.2023

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Universal-CEO Grainge kritisiert Abrechnungsmodell der Streaming-Dienste

Lucian Grainge (links), CEO Universal Music Group, gemeinsam mit dem Schauspieler James Corden und Irving Azoff (Azoff MSG Entertainment) (2018). © Luke Harold via Flickr / Lizenz: CC0

In seiner Neujahrsbotschaft an die Mitarbeiter von Universal kritisiert Labelchef Lucian Grainge das aktuelle Abrechnungsverfahren der großen Streaminganbieter und fordert Veränderungen. Unter anderem bringt er ein "künstlerzentriertes" Modell ins Spiel. Was steckt hinter dem plötzlichen Sinneswandel?

Die erstaunlichen Aussagen von Universal-CEO Lucian Grainge lassen wachsende Unzufriedenheit mit dem Abrechnungssystem der Streaming-Services erkennen – einem System, von dem die Major-Labels lange profitiert haben

Flut von "Nonsense-Musik"

So schreibt der Labelboss in seinem Memo, dass uns "jede bahnbrechende technologische Entwicklung" – gemeint ist die Revolutionierung des Musikmarktes durch Streamingdienste - "unweigerlich vor neue Herausforderungen" stelle. 

Aufgrund der immensen Zahl täglicher Releases auf den Streamingplattformen, würden Nutzer/innen aber "zunehmend von Algorithmen zu funktionalen Inhalten geringerer Qualität geleitet, die in einigen Fällen kaum als 'Musik' durchgehen" würden.

Grainge verdammt die "Low-Quality-Musik", mit der er z. B. "31-Sekunden-Track-Uploads von Sounddateien" meint. Diese Musik hat oft keinen künstlerischen Wert, verwendet repetitive Muster und dient nur dazu, den Ertrag der Streaming-Einnahmen durch ihre "Erschaffer" zu maximieren.

Zahlreiche Manipulationsmodelle

Die Praxis der 31-Sekunden-Tracks ist aber nur die Spitze des Eisbergs einer inzwischen fast unüberschaubaren Menge an Manipulationsmöglichkeiten. Weitere Beispiele betreffen die unerlaubte Nutzung von Musik oder Samples, die Verwendung von Bots zum Hochtreiben der Streaming-Zahlen und die Nutzung gefälschter Identitäten zum Hochladen von "Musik", die vornehmlich dazu dient, Streaming-Einkünfte abzuschöpfen. 

Welche Brisanz das Business bisweilen besitzt, verdeutlicht Nick Dunn, CEO des UK-Musikvertriebs Horus Music. In einem Gastbeitrag für MusicBusinessWorldwirde erklärt er, sein Team habe sogar Todesdrohungen erhalten, als es damit begonnen habe, Identitäten von verdächtigen Uploadern auf ihre Legitimität zu überprüfen. 

Sein ernüchterndes Fazit lautet, dass die Musikindustrie in ihrer Gesamtheit Verbrechern oder "kriminellen Banden" helfe, eine neue Art von illegalem Einkommen zu erzielen oder ihr Geld zu waschen. 

Horus Music ist nicht das einzige Unternehmen, das vor diesen Problemen steht. Ein wirklicher Mechanismus, um diese Machenschaften zu stoppen, existiert aufgrund der internationalen Natur des Streaming-Marktes und der Vielzahl der Musikvertriebe nicht.

Major-Labels merken auf

Diese Erkenntnis ist offensichtlich auch bei Grainge angekommen, dessen Unternehmen natürlich über eine ganz andere Marktmacht verfügt als ein kleiner Musikvertrieb. Gleichzeitig verfolgt er mit seinen Aussagen natürlich handfeste kommerzielle Interessen. 

So kritisiert Grainge, dass Algorithmen Konsument/innen zu häufig Musik empfehlen würden, die "keinen sinnvollen künstlerischen Kontext hat, für die Plattform weniger teuer zu lizenzieren ist oder in einigen Fällen direkt von der Plattform in Auftrag gegeben wurde."

So wird diese generische Musik in vielen Fällen durchaus bewusst organisch konsumiert, wenn User etwa Musik zum Einschlafen, Sounds wie knisterndes Kaminfeuer oder simple Kinderlieder hören möchten.

Verlust nicht nur bei den Labels

Der Wegfall der teuren Lizenzausgaben ist für die Streaming-Dienste ein Gewinn, für die Major-Labels aber ein Verlust. Indem Grainge den Mehrwert echter Künstler in den Mittelpunkt stellt, verteidigt er eben auch das Geschäftsmodell seines Labels. 

Allerdings sind die Major-Labels keineswegs die einzigen Betroffenen. Auch die Lizenzeinnahmen der Verwertungsgesellschaften, Musikverlage und der Musiker und Songwriter bzw. Komponisten sinken durch diese Praktiken. 

Werden Musiker und Musikindustrie überflüssig?

Das Geschäftsmodell der Labels besteht eben darin, Musiker oder Bands mit Wiedererkennungswert hervorzubringen oder zumindest existierende Musik zu vermarkten und dafür von den Streaming-Plattformen Lizenzgebühren zu kassieren. Aus Sicht der Streaming-Dienste ist die Existenz von Labels aber nicht nötig – im Gegenteil sie schmälert durch die Zahlung der Lizenzgebühren ihren Gewinn.

Kein Wunder, dass Streaming-Dienste Musik bevorzugen, für die keine Lizenzgebühren fällig werden, da deren Rechte von Beginn an bei den Streaming-Plattformen liegen. Musiker, Verwertungsgesellschaften und Labels gehen bei dieser Art von Musik leer aus.  

Konflikt zwischen Qualität und Quantität

Das Problem besteht also nur teilweise darin, dass skrupellose Individuen, Gruppen oder Unternehmen das Abrechnungssystem der Streaming-Plattformen manipulieren oder für sich nutzbar machen. Stattdessen sind einige Streaming-Dienste auf die Idee gekommen, dass sie eigentlich Musiker oder Labels gar nicht benötigen. 

Sie sind in der Lage, Musik ohne künstlerischen Anspruch in quasi unbegrenzter Menge selbst herzustellen oder herstellen zu lassen, neuerdings auch durch KI. Auf ihren Plattformen können sie dann dafür sorgen, dass diese Musik massenhaft von den Algorithmen vorgeschlagen wird, während "echte" Künstler leer ausgehen. 

Dadurch ergibt sich für Grainge eine neue Frontstellung in der Musikindustrie:

"In der Vergangenheit konzentrierte sich der Konflikt in der Musikindustrie oft auf ‘die Majors gegen die Indies’. Heute besteht die wirkliche Kluft jedoch zwischen denen, die sich verpflichtet haben, in Künstler und die Entwicklung von Künstlern zu investieren, und denjenigen, die sich dafür einsetzen, das System durch Quantität vor Qualität auszuspielen."

Nun kann man einwenden, dass auch auf den Major-Labels die Qualität oft nicht stimmt, aber es handelt sich eben dennoch um real existierende Künstler, während die in Massen hergestellte Musik eben gar nicht mit dem Anspruch geschaffen wurde, überhaupt Musik zu sein.

Nutzerbasiertes Abrechnungssystem als Lösung?

Vor diesem Hintergrund ist weniger überraschend, dass der CEO die Einführung eines "künstlerzentrierten" Abrechnungsmodells fordert. Grainge lässt zwar offen, wie genau ein solches aussehen könnte, betont aber, dass die Abkehr vom herkömmlichen Vergütungssystem nicht mehr "Künstler eines Genres gegen Künstler eines anderen oder Major-Label-Künstler gegen Indie- oder DIY-Künstler ausspielen" würde.

Die Bemerkung, dass das neue Modell alle Abonnenten wertschätze und die Musik, die diese lieben, belohnen würde, lässt die Vermutung zu, dass Grainge an das nutzerbasierte Abrechnungssystems UCPS denkt, bei dem die Streaming Gebühren eines Nutzers nur an die Artists gehen würden, die der Nutzer auch wirklich hört. Schon seit Jahren wird diese Reform diskutiert, bislang aber ohne echte Ergebnisse.

Universal will selbst Veränderung einleiten

Dass Universal ein ernsthaftes Interesse an genau dieser Veränderung haben könnte, verdeutlicht folgende Aussage:

“Was uns und so vielen Künstlern und Songwritern – sowohl aufstrebenden als auch etablierten – klar geworden ist, ist, dass sich das Wirtschaftsmodell für Streaming weiterentwickeln muss. Mit dem technologischen Fortschritt und der Entwicklung von Plattformen ist es nicht verwunderlich, dass auch Geschäftsmodellinnovationen erforderlich sind, um mit dem Wandel Schritt zu halten”.

In jedem Fall hat Lucian Grainge seinen Mitarbeitern versichert, dass Universal in diesem Jahr an der Innovation arbeiten wolle, die notwendig sei, "um ein gesünderes, wettbewerbsfähigeres Musikökosystem zu fördern, in dem großartige Musik, egal woher sie stammt, für Fans einfach und klar zugänglich ist". 

Kritik aus der Vorstandsetage

Es rächt sich, dass sich die Streaming-Plattformen nicht oder nur zu einem geringen Teil im Besitz der Musiklabels bzw. der Musikindustrie befinden. Hinsichtlich der Infrastruktur sind die Labels also auf die Streaming-Dienste angewiesen. Ein künstlerbasiertes Abrechnungssystem lässt sich nur umsetzen, wenn sich die Musikindustrie und die Betreiber der großen Streaming-Plattformen einig sind.

Während der Streaming-Dienst Deezer schon vor Jahren entsprechende Pläne geäußert hat, war von anderen Plattformen wenig zu hören. Neu ist allerdings, dass der CEO eines Major-Labels die Kritik an den Vergütungsmodellen der Streaming-Labels erhebt. Dieses Problem ist seit Jahren allgegenwärtig in der Musikindustrie und wurde auch von uns häufig thematisiert, beispielsweise in diesem Artikel.

Von Labelseite war bislang eher wenig zu der Problematik zu hören. Kein Wunder, waren die Artists, die ohnehin schon große Fanbases haben, viele Streams generieren und eben in der Regel bei Major-Labels unter Vertrag stehen, bisher die Profiteure des Abrechnungsmodells.

Ein Geschäftsmodell unter Druck

Grainge bricht mit dem selbstzufriedenen Schweigen, weil er erkannt hat, dass das aktuelle Vergütungssystem nicht nur den Major-Labels schadet, sondern theoretisch die gesamte Recorded-Music-Industrie unterminieren kann. 

Die Major-Labels stehen aber nicht nur von Seiten der Streaming-Portale unter Druck, sondern auch von Künstlerseite. Viele jüngere Künstler setzen zunehmend auf Unabhängigkeit und lehnen die Bindung an ein Label ab. 

Das Geschäftsmodell der Major-Labels kann aber nicht funktionieren, wenn sich Künstler nicht mehr an sie binden wollen. Grainges Aussagen lassen sich auch als Versuch interpretieren, die Attraktivität (und das Image) der Major-Labels auf der Künstlerseite zu heben.

Gegenmaßnahmen gesucht

Wie aber könnte man dagegen vorgehen, dass die Musik auf Streaming-Plattformen immer mehr von Tonerzeugnissen dominiert wird, die nur dazu dienen, Einnahmen zu erzielen, indem sie das Abrechungsystem ausnutzen?

Ein erfolgreiches Vorgehen setzt voraus, dass alle Seiten an einer Bekämpfung von Manipulationen interessiert sind.  

Zur Abwehr der Manipulation von Streaming-Zahlen könnten einheitliche Standards, globale Datenbanken und vor allem ein Informationsaustausch zwischen Streaming-Diensten, Labels und Musikvertrieben beitragen. 

Viel schwieriger dürfte es werden, bei den Streaming-Diensten ein neues Abrechnungsmodell durchzusetzen. Dabei sind viele Möglichkeiten theoretisch denkbar.

  • Die algorithmische Bevorzugung von Musik, die nachweislich von Menschen erzeugt wurde. Auf diese Weise könnte Musik "abgestuft" werden, die von KIs komponiert wurde, denn diese Musik lässt sich zumindest unter US-Recht nicht zum Copyright anmelden.
  • Die Einführung eines User-centric-payment-systems, gegen das sich vor allem die Major-Labels bisher gesperrt haben.
  • Die Abstufung von nachweislich durch Bots erzeugten Streams bzw. die Entdeckung und Abwertung von Streams, die durch massenhaftes Hören derselben Musik entstanden sind. 
  • Die genauere Erfassung der Menge, Länge und Qualität hochgeladener Tracks, so dass Accounts mit 1.000 Tracks mit einer Länge von exakt 31 Sekunden "abgestraft" werden.
  • Das Ergreifen von Gegenmaßnahmen gegen den de facto existierenden Zwang, Tracks zur Maximierung von Einnahmen möglichst kurz zu halten. 

Mit diesen Maßnahmen würden sich aber Streaming-Dienste hinsichtlich ihrer Einnahmen selbst schaden. Ob und auf welchem Weg sie sich durchsetzen lassen, ist daher noch völlig unklar.

Außerdem besteht das Problem bei all diesen Maßnahmen, an den exakt richtigen Stellschrauben zu drehen, ohne unerwünschte Nebeneffekte zu erzielen. Selbst wenn solche oder ähnliche Reformen des Streaming-Abrechnungssystems durchgesetzt würden, müsste man deren Auswirkungen regelmäßig überprüfen und ggf. nachjustieren. 

Einfache Lösungen sind jedenfalls nicht in Sicht.

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