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Hörgewohnheiten im Wandel

Ist das Album tot? – Veröffentlichungen im Zeitalter des Musikstreamings

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 22.03.2019

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Ist das Album tot? – Veröffentlichungen im Zeitalter des Musikstreamings

The Doors, Eagles, Jimi Hendrix - klassische Album-Acts vergangener Jahrzehnte. © Mike via. pexels.com

Seit Mitte der 1960er Jahre ist das Album ein zentraler Bezugspunkt der Popmusik. Aber trifft das im Zeitalter des Streamings noch zu? Oder dominieren längst Einzelsongs und mehr oder weniger kunstvoll zusammengestellte Playlists? Und wenn ja, was bedeutet das für Bands und Musiker, die an das nächste Album denken?

Die Liste legendärer Alben ist lang. Wer kennt nicht Werke wie "Highway 61 Revisited", "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band", "Sticky Fingers", "Physical Graffiti", "Paranoid", "Nevermind" oder "OK Computer"?

Die Albumkultur hat die Popmusik seit Mitte der 1960er geprägt, nicht nur für Musikfans, sondern auch für Bands und Musiker. Das Konzept einer abgeschlossenen Sammlung aus (idealtypisch) selbstgeschriebenen Songs, die nicht unbedingt thematisch, aber doch musikalisch eine Einheit bildet, stellt bis in die Gegenwart für viele einen zentralen Bezugspunkt dar.

Siegeszug und Abstieg des Albums

Das Album überlebte sogar die erste Stufe der digitalen Revolution: Nie verkauften Bands mehr Alben als in den späten 1990ern und frühen 2000ern, als die CD das Maß aller Dinge war – und Alternativen zum Kauf eines Albums fast nicht existierten. Inzwischen haben sich die Zeiten aber gründlich gewandelt. Der Massenerfolg des Streamings bedingt, dass das Konzept des in sich schlüssigen Albums zunehmend in den Hintergrund gedrängt wird.

Wie immer ist bei derartigen generellen Aussagen zu bedenken, dass sie natürlich eine komplizierte Situation verallgemeinern. Auch in der Hochzeit des Albums spielten Hit-Singles für den Musikkonsum die Hauptrolle – und wenige Fans kauften Alben von Whitney Houston, Mariah Carey, Take That oder den Backstreet Boys wegen der darauf enthaltenen Album-Stücke. Damals wie heute wollten die meisten Fans die größten Hits hören.

Hip-Hop dominiert Streams

Das hat sich nicht geändert. Allerdings erlaubt es Streaming, das von Bands und Musikern im Zusammenspiel mit Produzenten und Plattenfirmen erdachte Album-Konzept vollkommen zu ignorieren und sich durch wenige Klicks ihr eigenes Musik-Programm in Form von Playlists zusammenzustellen. Sicher: Früher gab es auch Mixtapes als Kassetten oder CD-r, aber der Aufwand der Herstellung ist nicht vergleichbar.

Dieses Phänomen betrifft aber nicht alle Musikstile gleichzeitig, wie die Analyse des US-Musikmarktes im Jahresendreport von BuzzAngle offenbart. (Link zum PDF) Das Album besitzt im Genre der Rockmusik eine wesentlich größere Bedeutung als beispielsweise im Hip-Hop. Rockmusik macht 26,5% aller digitalen und physischen Albumverkäufe aus, gefolgt von Popmusik (im engeren Sinn) mit 26,3%. Hip-Hop liegt mit lediglich 5,2% aller Albumverkäufe noch hinter Country (12,9%), R&B (7,3%) und Soundtracks (5,8%).

Hip-Hop dominiert hingegen das Streaming-Geschäft. 25,4% aller Audio- oder Video-Streams fallen in die Kategorie Hip-Hop/Rap, während Pop nur 18,5% und Rock gar nur 11,4% erreicht. Das Ergebnis sind Phänomene wie der Rapper Mero, der nach Veröffentlichung zweier Singles mittelgroße Hallen füllt. Hip-Hop-Acts können sich mit anderen Mitteln Gehör verschaffen als mit einem Album.

Hip-Hop verkauft keine Alben – oder doch?

Betrachtet man nur den Verkauf physischer Tonträger (CDs und LPs) treten die Unterschiede noch deutlicher hervor. Der Verkauf von Pop-CDs macht 27,5% aller CD-Verkäufe aus. Rock-CDs erreichen in dieser Kategorie einen Anteil von 24,5%, während der Absatz von Hip-Hop-CDs mit 3,2% bemerkenswert gering ist. Hip-Hop liegt damit nur knapp vor Klassik (3,0%) und Jazz (2,6%)! Bei Vinyl-Verkäufen von Alben dominiert klar die Rockmusik mit einem Anteil von 41,7%, Pop erreicht 25,6%, während lediglich 6,6% aller verkauften Vinyl-Alben dem Hip-Hop-Genre zuzuordnen sind.

Kendrick Lamar, einer der wenigen Rapper, der eine große Zahl physischer Alben verkauft.

Kendrick Lamar, einer der wenigen Rapper, der eine große Zahl physischer Alben verkauft., © Christian San Jose

Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel. Kendrick Lamar ist mit seinem aktuellen Alben "DAMN" und der Wiederveröffentlichung von "Good Kid, M.A.A.D City" gleich zweimal in der Top 20 der bestverkauften Platten des Jahres 2018 vertreten. Wie wenig allerdings Hip-Hop-Künstler Vinyl auf dem Schirm haben, zeigt sich darin, dass sein minutiös arrangiertes Meisterwerk "To Pimp A Butterfly" aus dem Jahr 2015 erst Monate nach der Erstveröffentlichung in einer Vinyl-Ausgabe vorlag.

Wachsende Bedeutung von Playlists

Da die Verkäufe physischer und digitaler Alben allerdings stetig sinken, steht auch der Pop- und Rockmusik ein radikaler Wandel bevor. Der Siegeszug des Streamings fördert neue Hörgewohnheiten und setzt das Album als Institution unter Druck. Streaming-Konsumenten haben schlichtweg andere Gewohnheiten als Album-Hörer. Das zeigt sich beispielsweise in der Tatsache, dass Playlists bei Musikhörern unter 45 immer stärker an Bedeutung gewinnen.

Im Branchenbericht Audio Monitor U.S. 2018 – The Overall Music Landscape (Link zum PDF) wird die wachsende Wichtigkeit von Playlists für Hörer unter 45 deutlich: Während Musikhörer über 55 nur zu 19% Playlists nutzen, sind es in den Alterskategorien zwischen 16 und 44 mehr als ein Drittel der Hörer.

In Altersgruppen ab 55 Jahren ist der Anteil der Album-Hörer zudem deutlich höher – kein Wunder, wurde diese Generation doch besonders stark durch die Rockmusik der 1960er und 1970er geprägt. Das Album verschwindet dennoch bei jüngeren Hörern nicht völlig als Bezugspunkt. In allen Altersstufen beträgt die Zahl der Album-Hörer mindestens 15%.

Klassische Alben als Dauerbrenner

Die vermeintlich rosigen Zahlen der Albumverkäufe im Pop- und Rockbereich bedeuten jedoch nicht, dass aktuelle Alben sich gut vermarkten lassen. Bei einer beträchtlichen Zahl der verkauften Alben im Rock- und Pop-Bereich handelt es sich nämlich um Wiederveröffentlichungen klassischer Alben, die bereits über eine Hörerschaft verfügen.

Am deutlichsten zeigt sich die Bedeutung von Wiederveröffentlichungen für Albumverkäufe in Hinblick auf Vinyl. Unter den meistverkauften Vinyl-Alben des Jahres 2018 befinden sich viele Klassiker vergangener Jahrzehnte.

Dazu zählen Michael Jacksons "Thriller", "Abbey Road" von den Beatles oder "Rumours" von Fleetwood Mac. Die erfolgreichste neue Vinylveröffentlichung des Jahres 2018 in den USA ist "Love Is Here To Stay" von Tony Bennett und Diana Krall, ein Jazz-Pop-Album zweier seit Jahrzehnten etablierter Künstler.

Für wen lohnt es sich, ein Album zu veröffentlichen?

Sollten aktuelle Pop-, Rock- und Metalbands daher darüber nachdenken, gar keine Alben zu veröffentlichen? In einer Umfrage vor knapp zwar Jahren auf Backstage PRO verneinten 80% der Teilnehmer die Aussage, dass das Album ausgedient hat.

Labelebetreiber Torsten Wohlgemuth und Jörg Tochtenhagen betonten im Interview vor allem die Bedeutung des Albums als Marketinginstrument für Rock-, Metal- oder Alternative-Bands. Ein Album sei demnach häufig Voraussetzung in der Musikpresse überhaupt wahrgenommen oder besprochen zu werden.

Das bedeutet aber umgekehrt, dass Bands, die keine oder nur geringe Hoffnungen darauf haben, von der Musikpresse beachtet zu werden, diesen Umstand in die Vermarktungsstrategie ihres Albums einbeziehen sollten. Insbesondere stellt sich die Frage: Lohnt es sich für eine Band CDs oder die noch wesentlich teureren Platten pressen zu lassen?

Gerade wertkonservative Rock und Metalfans zeigen eine hohe Loyalität zum Album und erwarten von Bands mit einer etablierten Fanbase schlichtweg nicht nur ein neues Album, sondern auch die Möglichkeit, es als Tonträger erwerben zu können. Grundsätzlich gilt zudem: Je näher die Musik klassischen Musikzeitschrift-Themen kommt, desto sinnvoller kann die Veröffentlichung des Albums als Tonträger sein.

Stetiger Wandel

Aber selbst unter diesen Umständen hat die Streaming-Revolution Auswirkung auf die Zusammenstellung des Albums an sich. Der erste Song besitzt beim Streaming eine besonders große Bedeutung, weshalb viele Musiker ihren Hit oder ihren besten Song ganz nach vorne stellen. Das ist natürlich kein neues Phänomen, gewinnt aber an Bedeutung in einer Zeit, in der Plattenfirmen minutiös die Wegklick-Raten beim Streaming analysieren.

Dass sich der Trend weg vom Album hin zum ungleich flexibleren Streaming umkehrt, ist kaum zu erwarten. Von dieser Entwicklung profitieren Genre, in denen das Album seit jeher geringere Bedeutung besaß wie eben Hip-Hop oder ein Großteil der elektronischen Musik. Im Gegenzug setzt die Abkehr Genre unter Druck, die besonders stark in der kulturellen Tradition des Albums stehen, namentlich die Rockmusik.

Wie seht ihr das? Welche Bedeutung hat das Album für euch? Welche Konsequenzen zieht ihr aus der abnehmenden Bedeutung des Albums?

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