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Für Wandel im Radio

Die Kritik am Musikprogramm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wächst

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 30.06.2023

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Die Kritik am Musikprogramm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wächst

Die Kritik an der Musikauswahl im öffentlich-rechtlichen Radio wächst. © Fringer Cat via unsplash.com

Die Kritik am Musikprogramm des öffentlichen-rechtlichen Rundfunks hat in den letzten Monaten an Fahrt aufgenommen. Nachdem sich Verbände wie der BVMI und der Deutsche Kulturrat zu Wort gemeldet haben, nehmen sich jetzt zwei Musikjournalisten mit der provokanten Frage "Wo ist hier der Krach?" den ÖRR vor – und erheben konkrete Forderungen.

Diversität ist eines der großen Schlagworte der Gegenwart – nur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist es offensichtlich kaum angekommen. Im Gegenteil: Die musikalische Vielfalt im Musikprogramm der öffentlich-rechtlichen Sender scheint immer weiter abzunehmen. 

Dabei kommt Kritik an der Programmgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Die neueste Wortmeldung stammt von zwei Musikjournalisten, die pikanterweise auch teilweise für den ÖRR tätig sind. 

Kein Programm abseits des Mainstreams

Mit der Frage "Wo ist hier der Krach?" nehmen sich Melanie Gollin und Martin Hommel die glattgebügelten Radio-Formate des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland vor. Sie beklagen insbesondere, dass der ÖRR die musikalische Vielfalt des Landes nicht abbildet

Die "einzigartige Position des ÖRR, einigermaßen werbe- und quotenunabhängig produzieren zu können" schreie "geradezu nach spannendem Programm und Musik abseits jeglichen Mainstreams". Davon sei die Realität jedoch weit entfernt. 

Blick über den Tellerrand

Dass es anders laufen kann, zeigt ein Blick über den Tellerrand. In anderen Ländern in Europa und Übersee existieren öffentlich-rechtliche Radiosender, die eine größere musikalische Vielfalt abbilden und bei denen Musik den alleinigen Fokus bildet. Das liegt auch daran, dass diese Sender das Ziel haben, die Hörer/innen mit Musik zu überraschen, die ihnen bis dato unbekannt war.

Gollin und Hommel haben mit den Macher/innen von Radiostationen in Österreich (FM4), Großbritannien (BBC Radio 6), Frankreich (FIP), Dänemark (DR P6 Beat), Australien (Double J) und der Ukraine (Radio Promin) gesprochen und festgestellt, dass diese Sender über ein klares Profil abseits des Mainstreams verfügen und sich nicht scheuen, ihre Leidenschaft für Musik auch nach draußen zu transportieren.

Forderungen für Deutschland

Aus dieser Bestandsaufnahme leiten Gollin und Hommel die Forderung ab, auch in Deutschland ein reines Musikradio zu etablieren. Sie wünschen sich einen "Sender, dessen Aufgabe es ist, das Land mit interessanter Musik zu versorgen, Hörkompetenz zu bilden und Hörgewohnheiten herauszufordern." Da die Produktionskosten eines reinen Musikradios niedrig ausfallen würden, wäre die Umsetzung auch relativ günstig.

Gollin und Hommel betrachten Radiosender als wichtige Multiplikatoren der lokalen Musikszene und verweisen auf die Austro-Pop-Welle der vergangenen Jahre. Es kommen eben deshalb so viele spannende Bands aus Österreich, weil sie von dortigen Radiosendern wie FM 4 Unterstützung erhalten.

Gollin und Hommel erklären weiterhin, dass Hörer/innen von Musikradios engagierter seien und sich um ein Vielfaches mehr mit ihrem Radiosender identifizierten als Hörer/innen normaler Radiosender. Sie seien auch mündigen Konsument/innen, die man nicht verschrecken dürfe. 

Eckpunkte eines deutschen Musikradios

Ein deutscher Musiksender im ÖRR müsse sich laut Gollin und Hommel auf die Vorstellung neuer Musik konzentrieren. Die Musikauswahl soll "durch Diversität, sowohl im Klang, als auch in den gespielten Künstler*innen (Genre, Herkunft, Gender)" bestechen. 

Musik aus Deutschland soll nach den Plänen viel Raum erhalten, da das Ziel des Senders auch darin besteht, den heimischen Musikmarkt zu repräsentieren. Musikalisch sollen vor allem "Spartenmusikstile wie Indie, Punk, Jazz, Funk, Techno, Metal, Pop, Hip-Hop, R’n’B und deren Subgenre" gespielt werden. Hits sollen nur als Teil des Gesamtkonzepts gesendet werden.

Dennoch soll der Sender keinen speziellen Sound haben, sondern sich dadurch auszeichnen, dass alle Genres jederzeit gespielt werden können. Die Moderatoren und DJs sollen "Experten auf ihren jeweiligen Gebieten" sein und dabei "locker, informativ und auf Augenhöhe" moderieren.

Kein deutscher Song in den Radio Top-100

Der Vorschlag von Gollin und Hommel, ein eigenes Musikradio im deutschen ÖRR zu etablieren, mag neu sein - die Kritik an der aktuellen Radio-Musiklandschaft ist es jedenfalls nicht. 

Zu Beginn des Jahres kritisierte Florian Drücke, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Musikindustrie (BVMI) die fehlende Repräsentation deutscher Musik im hiesigen Radio und forderte insbesondere vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine stärkere Berücksichtigung deutscher Musik.

Anlass seiner Kritik war die Tatsache, dass sich in den Top 100 der Airplay-Charts, also der 100 meistgespielten Titel im deutschen Radio, kein einziger deutscher Song befand. Besonders bemerkenswert ist die abnehmende Tendenz: 2020 befanden sich immerhin noch sechs Songs in den Top 100 - im Jahr 2022 hingegen gar keine mehr.

In diesem Zusammenhang geht es wohlgemerkt nicht um Nischen der Musiklandschaft, sondern hauptsächlich um Acts, die bei den großen deutschen Labels wie Universal, Sony oder Warner unter Vertrag stehen. 

Radiosender kopieren Streaming-Playlists

Im Interview äußerte Axel Müller, Multi-Instrumentalist und Vorsitzender von PRO Musik, die Vermutung, dass die internationalen Major Labels mit aller Macht versuchen, ihre Musik in Deutschland zu pushen - und damit deutsche Musik gewollt oder ungewollt an den Rand drängen.

Müller wies in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit der Radio-Airplay-Charts zu den großen Streaming-Playlists hin, obwohl ganz unklar sei, ob die Streaming-Playlists wirklich den allgemeinen Geschmack repräsentieren. 

Ähnlich wie Drücke stellt auch Müller einen Rückschritt fest, denn noch vor wenigen Jahren hätten die Radiosender mehr deutschsprachige Musik gespielt. Das Ziel müsse darin bestehen, deutsche Musik wieder verstärkt im Radio zu spielen, "ansonsten machen wir es deutschsprachiger Musik nicht leichter."

Der Kulturrat meldet sich zu Wort

Zuletzt forderten auch der Deutsche Kulturrat und die Kultur-Rundfunkräte der öffentlich-rechtlichen Sender eine stärkere Berücksichtigung von Kultur im Programm und insbesondere auch in den nicht-linearen Inhalten im Internet. 

Zudem forderte der Kulturrat mehr Berichterstattung über die vielfältigen lokalen und regionalen Kulturszenen, die sich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk widerspiegeln sollten. Mehr zu den Forderungen des Kulturrats gibt es hier.

Große Übereinstimmungen

Obwohl die Kritik am Musikprogramm des ÖRR aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommt, ist ihr die Stoßrichtung doch gemein: Alle Debattenteilnehmer/innen fordern mehr Vielfalt im öffentlich-rechtlichen Radio. 

Worin genau diese Vielfalt bestehen soll, darüber herrscht unter den Debattenteilnehmer/innen keine Einigkeit. Gemeinsam ist ihnen aber die Forderung nach mehr Berücksichtigung der regionalen oder lokalen Musikszenen sowie deutscher bzw. deutschsprachiger Musik im Allgemeinen.

Ein Patentrezept wird es dabei nicht geben. Neben der generellen Stärkung deutscher Musik im ÖRR bzw. im Radio sind auch Timeslots für regionale Musik im Hauptprogramm oder eben die Etablierung eigener Musiksender (es muss ja keineswegs nur einer sein) eine Option. Die Debatte ist jedenfalls eröffnet: Eine Reaktion der öffentlich-rechtlichen Sender auf die Vorschläge wäre wünschenswert.

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