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Neue Möglichkeiten, neue Risiken

TikTok, KI und die tägliche Flut neuer Songs: Jörg Peters (recordJet) über aktuelle Trends der Musikbranche

Spezial/Schwerpunkt von Jörg Peters
veröffentlicht am 14.02.2023

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TikTok, KI und die tägliche Flut neuer Songs: Jörg Peters (recordJet) über aktuelle Trends der Musikbranche

Die Zahl der auf Streaming-Diensten hochgeladenen Songs wächst unaufhörlich. © Castorly Stock via Pexels

Die Pandemie hat den Wandel der Musikbranche noch einmal beschleunigt. Die Zahl der auf Streaming-Plattformen hochgeladenen Songs wächst unaufhörlich, TikTok gewinnt weiter an Marktmacht und auch Künstliche Intelligenz hat die Finger im Spiel. Jörg Peters, Head of Marketing bei recordJet, über die aktuellen Entwicklungen der Musikbranche.

Laufend entwickeln sich neue Trends, die Musiker/innen, Labels und Verlage im Auge behalten sollten, um am Ball zu bleiben und nicht von der Konkurrenz abgehängt zu werden. Um im Durcheinander der Trends nicht unterzugehen, gilt es eine zentrale Frage zu beantworten: Welches dieser Phänomene ist nur ein vorübergehender Hype, und welcher Trend ist gekommen, um zu bleiben?

I got 99.999 problems: Die Release-Flut im Streaming

Ein kurzer Blick auf die Fakten: Streaming dominiert weiterhin die Musikindustrie. Eine Sonderauswertung der GfK Entertainment in Kooperation mit dem Bundesverband Musikindustrie (BVMI) zeigt, dass 2022 rund 178 Milliarden Audiostreams gemessen wurden.

Jeden Tag wird darüber hinaus eine unfassbare Menge an neuen Songs veröffentlicht. Und davon nicht zu wenig. Waren es Anfang 2021 noch 60.000 neue Songs pro Tag, sind wir nun bei 100.000 Veröffentlichungen pro Tag angelangt.

Doch was bedeutet das für Musiker/innen?

Einerseits stehen Musiker/innen so viele Möglichkeiten wie nie zuvor zur Verfügung, sich kreativ auszuleben und die Ergebnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen. Es war noch nie so einfach wie heute unabhängig, also ganz ohne Label, die eigene Musik aufzunehmen und zu veröffentlichen.

Wachsende Konkurrenz

Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Denn man ist ein Artist unter Hunderttausenden und konkurriert mit all diesen um die begrenzte Aufmerksamkeit der potentiellen Hörer/innen. Nur mit viel Glück und Ausdauer schaffen es Künstler/innen komplett im Alleingang auf den reichweitenstärksten Playlisten von Spotify (wie bspw. Modus Mio) vertreten zu sein, oder über Nacht einen viralen Hit zu kreieren, der die Karriere maßgeblich vorantreibt.

Nicht nur für die Musiker/innen wird die Situation auf dem Musikmarkt zunehmend herausfordernder. Auch die Rezipient/innen sind mit der Masse an Liedern überfordert. Es ist unmöglich, alle spannenden Releases zu hören, geschweige denn, sich tiefergehend damit auseinanderzusetzen.

Keine Erfolgsformel

Wie können Musiker/innen heutzutage aus der breiten Masse herausstechen? Vermutlich stellen sich viele Künstler/innen genau diese Frage. Die Antwort mag ernüchternd sein, denn es gibt leider keine allgemeingültige Formel, die den erhofften Erfolg garantiert. Neben dem richtigen Zeitpunkt, Fleiß, kontinuierlicher harter Arbeit und qualitativ hochwertiger Musik gehört auch eine Menge Glück zum Repertoire eines Artists.

Grund zur Resignation ist aber fehl am Platz – es gibt nämlich Faktoren, die man als Musiker/in selbst in die Hand nehmen kann und sollte:

  • Alleinstellungsmerkmale identifizieren und auf deren Basis ein stimmiges Artist Image aufbauen
  • Gemeinsam ist man stärker: Hilfe von Expert/innen in Anspruch nehmen
  • Eine dezidierte Marketing-Strategie aufsetzen und verstärkt Kapazitäten in die Online-Präsenz investieren

Ausführliche Tipps, wie man mit dem (ersten) Album durchstartet, gibt es hier.

Social Media: TikTok & Co. – Unerlässliche (Marketing)Tools oder Energieräuber?

Die aktuelle Ausgabe der ARD/ZDF Onlinestudie (Link zum PDF) zeigt, dass vor allem die Social-Media-Nutzung der 14- bis 29-Jährigen zunimmt: 56 Prozent der Befragten nutzen Instagram täglich. Gefolgt von Snapchat mit 36 Prozent und TikTok mit 29 Prozent. Besonders spannend: Der Konsum von TikTok ist seit dem Jahr 2020 von 7 Prozent auf 29 Prozent in 2022 gestiegen.

Durch den auch weiterhin wachsenden Social-Media-Konsum verschiebt sich das Entdecken von neuer Musik schon seit geraumer Zeit mehr und mehr in den digitalen Raum. Auf Instagram und YouTube, aber allen voran auf TikTok haben Songs das Potential viral zu gehen und über Nacht bis dato unbekannte Künstler/innen ins weltweite Scheinwerferlicht zu rücken.

Denn die App, die einst vor allem für tanzende Jugendliche bekannt war, wird aktuell weltweit von 1,7 Mrd. Menschen genutzt (Statista) – Tendenz steigend – und hat sich aufgrund seiner Mechanik mit kurzen, endlos hintereinander konsumierbaren Videoclips zu einem absolut unverzichtbaren (Marketing-)Kanal der Musikbranche etabliert.

Kurze Aufmerksamkeitsspanne

Auf TikTok lassen sich einige Trends beobachten: Besonders auffallend ist, dass der komplexe und sich ständig ändernde Algorithmus einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise hat, wie Musik heutzutage produziert wird. Die App ist auf die kurze Aufmerksamkeitsspanne ihrer Nutzer/innen ausgerichtet.

Den Reiz von TikTok macht aber vor allem die Kürze der Videos aus; so sind zwar Videos bis zu einer Länge von 10 Minuten mittlerweile möglich, jedoch gibt TikTok selbst an, dass ein Video vor allem dann am besten abschneidet, wenn die Länge bei 21 bis 34 Sekunden liegt.

Möchte man als Artist auf TikTok stattfinden, müssen die Songs für TikTok optimiert werden, sprich auf die Bedürfnisse und Gewohnheiten der App-Nutzer/innen abgestimmt werden. Der Trend geht also in Richtung kurzer Songs, die mit einer eingängigen Hook starten und dank einfacher Texte und Melodie schnell im Gedächtnis hängen bleiben.

Fest steht: Die Releaseflut wird weiterhin zunehmen und je wichtiger TikTok wird, desto eher wird man sich auch an die Algorithmen der App anpassen.

Veröffentlichungen promoten

Auch die Promophase funktioniert aktuell für bestimmte Zielgruppen am besten über TikTok. Kurz vor einem neuen Release teasern Artists mit kurzen Snippets aus dem Track den neuen Song in Form von Video-Clips an. Besonders populäre Beispiele sind dafür beispielsweise Nina Chuba mit dem Hit "Wildberry Lillet" oder Domiziana mit ihrem viralen Song "Benzin".

Doch so relevant TikTok zum aktuellen Zeitpunkt sein mag, so viele Probleme verbergen sich auch hinter der Funktionsweise der App. Die Hörer/innen und Fans haben zunehmend höhere Erwartungen an Musiker/innen und deren Online-Inhalte auf TikTok, aber auch auf Instagram, das als Plattform trotz TikTok-Hype weiterhin relevant ist.

Die Gefahr der Überforderung

Um diesen gewachsenen Ansprüchen gerecht zu werden und die verschiedenen Plattformen mit maßgeschneiderten Inhalten zu bespielen, investieren viele Künstler/innen mehr und mehr Zeit und Energie – das Ergebnis: Die Grenzen zwischen Influencern/ Content-Creator/innen und Musiker/innen verschwimmen immer mehr.

Während einige Artists auch Social-Media-affine Entertainer sind und mit ihren zeitintensiven Aktivitäten groß wurden, gibt es auch einen nicht unerheblichen Anteil an Künstler/innen, die von den Anforderungen einer erfolgversprechenden Social Media Strategie überfordert sind

Der Höhepunkt ist noch nicht erreicht

Mit Sicherheit steckt in der TikTok-App noch weiteres großes Potenzial, den nächsten Evolutionsschritt zu gehen und die Musikindustrie längerfristig maßgeblich zu beeinflussen. Ich vermute, dass der Höhepunkt des TikTok-Trends noch nicht erreicht ist. Schon jetzt bestimmt TikTok in den bei jungem Zielpublikum beliebten Genres das Songwriting, die Vermarktung von Künstler/innen sowie die Strategien vieler A&R-Manager/innen.

Labels, Managements und Vertriebe achten mehr und mehr auf die Popularität und die Inhalte auf Social Media, bevor sie eine/n Musiker/in unter Vertrag nehmen. Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass ein Hype auch schnell wieder vorbei sein kann und letzten Endes die Qualität der Musik und das Gesamtpaket, das ein Artist zu bieten hat, darüber mitentscheidet, wie lange ein Act relevant bleibt.

AI takes over – Demokratisierung der Musikproduktion oder ernsthafte Bedrohung für die gesamte Industrie?

Das Jahr 2023 wird wegweisend sein, welche Rolle KI zukünftig in der Musikproduktion einnehmen wird. Dabei ist KI in der Musikbranche keine komplette Neuheit. Seit Jahren wird sie bereits eingesetzt, beispielsweise über Apps wie Snapchat oder Shazam, um Songs zu identifizieren. Aber auch Spotify nutzt KI in Form eines Machine Learning Systems, wenn der Streaming-Riese unser Hörverhalten scannt und uns benutzerspezifische Playlisten vorschlägt.

Doch künstliche Intelligenz findet auch mehr und mehr Einzug in der Musikproduktion und hat – ähnlich wie TikTok – enormen Einfluss darauf, wie Musik geschrieben und produziert wird.

Die technische Entwicklung ist mittlerweile an einem Punkt angelangt, dass KI-getriebene Software ähnliche Ergebnisse wie von Menschenhand liefern kann und das betrifft nicht nur instrumentale Sounds, sondern auch die Erzeugung menschlicher Stimme.

Die Plattformen von Tencent Music, einem Unternehmen, das Musik-Streaming-Dienste für den chinesischen Markt entwickelt, verfügen inzwischen über mehr als 1.000 Songs mit KI-generierten Vocals. Und die Resonanz auf diese Songs ist durchaus positiv: Cussion Pang, Executive Chairman von Tencent Music Entertainment, erwähnt gegenüber Music Business Worldwide, dass der Song "Today" der erste Track eines AI-Artists ist, der die magische Marke von 100 Millionen Streams geknackt hat.

Die Anzahl der Unternehmen wächst, die sich auf KI-gestützte Musikproduktions-Apps konzentrieren. Beispielsweise erstellt das Musikproduktions-Tool AIVA in nur wenigen Klicks einen KI-generierten Song. Und auch in puncto Songwriting gibt es Anwendungen wie Amadeus Code, die helfen, Akkordfolgen und Melodien zu entwickeln.

Echte Menschen machen den Unterschied

Dennoch sollte man nicht in Fatalismus verfallen, dass Maschinen über kurz oder lang die komplette Musikproduktion an sich reißen werden. Meiner Meinung nach werden KI-Werkzeuge mittelfristig vor allem als Impulsgeber dienen und den Komponist/innen zahlreiche Variationen für Klangbilder oder andere kompositorische Elemente anbieten, mit denen diese ihr Stück, dessen Kern ihrer eigenen Kreativität entsprungen ist, weiterentwickeln können. Sie bieten Künstler/innen neue Möglichkeiten, einzigartige Formate auszuprobieren und sich kreativ weiterzuentwickeln und auszuleben.

Ich bin überzeugt, dass echte menschliche Emotionen nach wie vor den Unterschied machen werden. Die beschriebenen Technologien werden allerdings bestehen bleiben und sich in ihrer Komplexität noch weiterentwickeln. Mit Sicherheit werden in den nächsten Jahren auch einige neue innovative Entwicklungen dazu kommen, von denen wir im Moment noch nicht zu träumen wagen.

Fest steht: Musiker/innen sollten sich mit KI-Technologien für die Musikproduktion vertraut machen und austesten, welche Aspekte sie künstlerisch voranbringen. Die Auswirkungen auf die Musikproduktion werden in den nächsten Jahren zweifellos enorm sein – die Frage, die es zu beantworten gilt, wird deshalb vor allem sein, wie verantwortungsvoll die Branche mit den Möglichkeiten umgehen wird.

Weitere Infos über den Autor Jörg Peters findet ihr hier.

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