×

Nach der Krise ist vor der Krise?

Zwischen Streaming und Live-Gigs: Das können Musikschaffende aus der Coronakrise lernen

Spezial/Schwerpunkt von Jörg Peters
veröffentlicht am 26.07.2022

marketing promotion selbstvermarktung musikbusiness diy recordjet streaming liveszene

Zwischen Streaming und Live-Gigs: Das können Musikschaffende aus der Coronakrise lernen

Musikschaffende sollten aus der Coronakrise die richtigen Schlüsse ziehen. © Wendy Wei via pexels.com

Die Krise in der Veranstaltungsbranche ist keineswegs vorbei. Umso wichtiger ist es für Bands und Künstler sich hinsichtlich der digitalen Vermarktung ihrer Musik möglichst professionell aufzustellen, wie Jörg Peters, Head of Marketing bei recordJet, in seinem Gastbeitrag erklärt.

Der Konzert- und Festival-Sommer ist aktuell in vollem Gange – ganz egal ob in Zeitungen und Magazinen oder auf Social Media: Überall springen einem die Bilder glücklich feiernder Künstlerinnen und Künstler auf den Bühnen dieser Welt entgegen. 

Viele Menschen genießen es, endlich wieder die Musik unserer Lieblingsbands live erleben zu können. Coronabedingt stellten die vergangenen knapp zweieinhalb Jahre für die Musikbranche eine nie zuvor dagewesene Herausforderung dar.

Von einem Tag auf den anderen drehte die weltweite Pandemie dem Live-Geschäft den Hahn zu. Damit war die für die meisten Musiker/innen wichtigste Einnahmequelle schlagartig versiegt, viele mussten (oder müssen weiterhin) um ihre Existenz bangen und kämpfen.

Die richtigen Schlüsse

Dass es früher oder später wieder zu einer ähnlichen Situation kommt, ist nicht auszuschließen. Die Lage ist nach wie vor volatil, manche Bands (wie Revolverheld) sagen jetzt bereits komplette Tourneen für den kommenden Winter ab. Umso wichtiger ist es, einen Blick zurück auf die zurückliegende Krise zu werfen, zu evaluieren, wie die Branche damit umging und welche Schlüsse wir daraus ziehen können, um zukünftig besser, schneller und effektiver darauf reagieren zu können.

Da alle Tourneen abgesagt wurden, hatten Künstlerinnen und Künstler vor allem eines im Übermaß, nämlich Zeit. So ist es letztlich nicht verwunderlich, dass sich die meisten ins Studio zurückzogen und neue Musik schrieben, produzierten und veröffentlichten.

Wir in unserer Funktion als digitaler Musikdistributor sahen einen wahren Upload-Boom ab dem zweiten Halbjahr 2020: Außerdem konnten wir während der Pandemie einen deutlichen Zuwachs bei den Neukund/innen und auch einen größeren Output bei den Bestandskund/innen verzeichnen.

Streaming-Boom in der Pandemie

Parallel dazu veränderte sich ebenso das Musiknutzungsverhalten der Hörer/innen, die den temporären Verzicht auf das Konzerterlebnis kompensieren mussten. Insbesondere Streaming verzeichnete ein deutliches Wachstum: Die Zahl der Abonnent/innen schossen in die Höhe; so lag die Zahl am Ende des zweiten Quartals 2021 weltweit bei 523,9 Millionen (109,5 Millionen mehr als ein Jahr zuvor, was einem Wachstum von 26,4 Prozent entspricht). 

Auch die Streamingzahlen stiegen an, allein in Deutschland wurden 2021 165 Milliarden Streams gemessen, fast ein Fünftel mehr als 2020 und sage und schreibe doppelt so viele wie 2018. Dass das Plus im Streaming die Ausfälle des Konzertgeschäfts nicht auffangen kann, steht fest. Selbst wenn man als Artist mehrere Millionen Streams vorweisen kann, sind die Einkünfte überschaubar.

Von umso größerer Bedeutung ist es, dass Musiker/innen individuelle Strategien entwickeln, die eine Bandbreite an Herangehensweisen und Tools beinhalten, um die Effektivität der eigenen Marketing-Aktivitäten zu erhöhen – doch darauf komme ich später nochmal im Detail zu sprechen.

Eine fairere Streaming Economy

Werfen wir zunächst den Blick nochmal auf die Streaming Economy: Welche Ansätze gibt es, um diese für alle Künstler/innen fairer zu gestalten? Aktuell arbeiten die meisten Streaming-Anbieter mit dem sogenannten Pro-Rata-Modell, bei dem die Einnahmen prozentual im Verhältnis zu allen getätigten Streams verteilt werden; das individuelle Hörverhalten der einzelnen User/innen wird dabei nicht berücksichtigt. 

Ein möglicher Lösungsansatz, um für mehr Ausgeglichenheit zwischen den großen Superstars und kleineren Indie-Künstler:innen zu sorgen, könnte aus unserer Sicht das User Centric Payment System sein. Dabei würden die Einnahmen, die durch die/den jeweilige/n User/in entstehen, nur an die Bands verteilt werden, die auch tatsächlich gehört wurden. 

Ob die Streaming Economy sich einig werden kann, auf dieses System umzustellen, kann ich nur schwer beurteilen, da alle Stakeholder inkl. Plattenfirmen, Labels, Verwertungsgesellschaften, Verlage diesen Weg gemeinsam einschlagen müssten. Sollte der Druck von außen, d.h. von Seiten der Fans und Musiker:innen jedoch steigen, wäre ein Systemwechsel durchaus realistisch und nicht nur mit Blick auf potentielle weitere Krisen auch wünschenswert.

Marktmacht der Major Labels

Bei der Kritik an der Streaming Economy wird auch immer wieder laut, dass die Streaming-Dienste die Major Labels bevorzugen würden. Sicherlich haben die Majors von Grund auf die größte Marktmacht und das eben nicht nur im Streaming. Denken wir hier nur mal an traditionelle Ausspielkanäle wie das Radio. Auch hier dominieren die Künstler:innen von Major Labels seit Jahrzehnten die Playlists und Charts. 

Im Gegensatz zum Radio, das nur über eine begrenzte Formatvielfalt verfügt und daher mit überschaubarer Risikobereitschaft agiert, gibt es im Streaming eine extrem große Auswahl an Playlisten für jede Art der Stimmung und für jedwede musikalische Nische. Die Songs durchwandern somit das Playlist-Ökosystem, womit jeder Künstler und jede Künstlerin die Chance hat, in eine Chart-Playlist zu kommen. 

Große Konkurrenz

Natürlich muss auch die Konkurrenz mit einberechnet werden, der sich die Bands auf den Plattformen ausgesetzt sehen - auf Spotify gibt es mittlerweile allein über 150.000 deutschsprachige Künstler/innen. Nimmt man sich als Upcoming Artist vor, diese Herausforderung im Alleingang anzunehmen, ist dies in den meisten Fällen höchstwahrscheinlich nicht von großem Erfolg gekrönt. 

Deshalb braucht es unabhängige Dienstleister für die digitale Musikdistribution, die Bands mit Potential mithilfe ihrer Expertise bestmöglich unterstützen und dank ihrer tagtäglichen Zusammenarbeit den Streaming-Services bei diesen auch optimal und zielgerichtet platzieren können. Nur durch die Zusammenarbeit solcher Expert/innen und unabhängiger Künstler/innen kann es gelingen, die Demokratisierung der Musikindustrie maßgeblich voranzutreiben.

Unterstützung für Künstler

Dabei ist es wichtig, den Künstler/innen nicht nur "Services von der Stange" anzubieten, sondern nach einem individuellen Baukastenprinzip die bestmögliche Kombination an zielführenden Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Und selbst das sollte im Optimalfall noch nicht alles sein, denn wenn es einem als Musikdistributor wirklich ein Anliegen ist, für Chancengleichheit zu sorgen, ist es von zentraler Bedeutung, den Musiker/innen systemrelevantes Wissen zu vermitteln, ihnen Handwerkszeug an die Hand zu geben, mit dem sie selbst wachsenden wirtschaftlichen Erfolg bewirken können. 

Am einfachsten setzt man so etwas in Form von Webinaren und Masterclasses um. Die Inhalte sollten immer handlungsbezogen sein, Hilfestellung für die konkrete Umsetzung geben und vielfältige Themengebiete abdecken, die über die reine Musikproduktion hinausgehen. Wie vermarkte ich mich selbst? Wie kreiere ich überhaupt eine Brand? Welche Social Media Kanäle sind für mich relevant und wie bespiele ich diese? Welche Formen finanzieller Unterstützung gibt es und wie nutze ich sie? Auf den Punkt gebracht: Wahres Empowerment muss die Devise sein.

Professionelle Partner suchen

Wie sollte nun die bereits angesprochene individuelle Strategie aussehen? Grundsätzlich lässt sich sagen: Je professioneller die Sache in Angriff genommen wird, je durchdachter der Ansatz, desto besser. Zunächst muss sichergestellt werden, dass die eigene Musik überhaupt zu den Fans gelangt. Hier empfiehlt es sich, einen professionellen digitalen Vertrieb in Betracht zu ziehen. 

Sollen auch physische Tonträger produziert und distribuiert werden, lohnt es sich natürlich auch dafür einen erfahrenen Partner an seiner Seite zu haben. Die Phasen zwischen dem Schreiben und Produzieren neuer Musik ist nicht zum Traumtanzen und Faulenzen da, sondern um sich als Live-Künstler/in zu etablieren – neue Musik und eine anschließende Tournee gehören zusammen wie Berlin Mitte und der Cappuccino für 3,80€. 

Die Wichtigkeit der Fanbindung

Das eine bedingt das andere: Fans wollen live neue Musik erleben – gut verkaufte Touren sind ausschlaggebend dafür, ob sich Bands oder Künstler es sich leisten können, neue Tracks zu produzieren. Wahre Fans freuen sich zudem über ansprechenden Merch, den man vor allem während der Tourneen vertreibt, aber auch darüber hinaus über einen eigenen Webshop verkaufen kann. Warum nicht ab und an die treuesten Fans mit exklusiven und limitierten Drops in Verzückung versetzen? Insbesondere Produkte, die nicht jede/r besitzt, stoßen auf immer größere Resonanz. 

Die Bandbreite der Optionen, solche Fanbindungsmaßnahmen umzusetzen, wächst ständig und auch neueste Ansätze, wie zum Beispiel die Einbindung von NFTs, können in die Überlegungen mit einfließen. Cro hat es hierzulande mit seinen CROllectibles vorgemacht, die zehn Fans lebenslang freien Eintritt zu seinen Konzerten ermöglichen. 

Die passende Marketing-Strategie zu erstellen ist zugegebenermaßen nicht ohne und trial and error gehören vor allem am Anfang mit dazu. Künstler/innen sollten dabei so kreativ wie möglich sein, wagen Neues auszuprobieren, aber dabei sich und ihrem Image treu bleiben; wer bloß auf einen Modezug aufspringt, wird meist schnell entlarvt.

Die TikTok-Revolution

Apropos Modezug: Mit einem eigenen Song einen Trend, einen Hype zu kreieren, wünscht sich mit Sicherheit jede/r Musiker/in. Und schaut man auf TikTok, die am schnellsten wachsende Social Media Plattform der Welt, die sage und schreibe eine Milliarde Nutzer/innen vorweisen kann, war die Möglichkeit, einen Hype zu erschaffen, noch nie so greifbar. TikTok ist zweifellos einer der größten Profiteure der Pandemie und sorgt immer mehr dafür, etablierte Prozesse der Musikindustrie auf den Kopf zu stellen. 

Die Entscheidung der App-Nutzer/innen, wen sie hören und wen sie supporten, gewinnt zunehmend an Einfluss auf die Entscheidung der Plattenlabels, wen sie unter Vertrag nehmen. Ein TikTok-Hype lässt sich nämlich nicht am Reißbrett entwerfen, das haben sich mittlerweile alle eingestehen müssen. Am Ende entscheiden die Fans, welche Songs sie millionenfach teilen und selbst in ihren eigenen Videos verarbeiten. Auf dem Spielfeld namens TikTok haben sich die Machtverhältnisse zugunsten einer demokratischeren Ausgewogenheit verschoben.

Ständig Content produzieren

Fest steht ebenso: Die Fans dürstet es kontinuierlich nach neuem Input. Diese Form der attention economy fordert von Künstler:innen so einiges – man muss ständig online sein, am besten den Seelenstriptease auf allen Kanälen teilen und dabei noch Hits am Fließband produzieren. Dass dies oft auf Kosten der mentalen Gesundheit passiert, sollte uns aufhorchen lassen. 

Trotzdem gilt: Die eigene (Online-)Präsenz darf grundsätzlich aber natürlich nicht von Monotonie geprägt sein, denn dann springen die Leute auch ab. Eine gewisse Dramaturgie sollte die Marketing-Strategie beinhalten, so dass der ein oder andere Überraschungsmoment für Fans und Medien dabei rausspringt. 

An Branchen-Events und Zusammenkünften von Musiker/innen und Entscheider/innen der Industrie teilzunehmen ist durchaus zu empfehlen: Wie sonst überall auch, kann eine Portion netzwerken helfen, die richtigen Leute zur richtigen Zeit zu treffen – neue Vertriebswege, ein neuer Tourveranstalter, eine Brand, die gerne mit einem im Rahmen einer Kooperation zusammenarbeiten möchte.

Erkenntnisse der Coronakrise

Zum Ende hin möchte ich zumindest versuchen, ein paar zentrale Erkenntnisse der Corona-Krise zusammenzufassen: Das Live-Geschäft wird durch kein alternatives Format zu ersetzen sein; schwitzig mit anderen Hunderten oder Tausenden zu den Songs seiner musikalischen Held/innen zu tanzen, ist auf emotionaler Ebene nicht zu übertreffen. Trotzdem sollten sich Künstler/innen in der digitalen Welt so breit und professionell wie möglich aufstellen, da diese weitaus weniger störanfällig ist. 

So schlimm Krisen auch sind, bieten diese gleichzeitig den Raum für kreative Freiheiten. Wenn es der eigene Seelenzustand zulässt, sollte man versuchen, diese Phasen als Chance zu betrachten, um Testballons steigen zu lassen. Wahrscheinlich platzen neun von zehn, aber einer kann das nächste große Ding sein. 

Dennoch – und so realistisch muss man sein - ohne schnellen und unbürokratischen Support von Seiten der Politik wird die Vielzahl dieser Testballons nur in den Köpfen der Künstler/innen fliegen. Wer glaubt, die Krise sei für die Veranstaltungsbranche überstanden, liegt leider komplett daneben. Ich kann zu diesem Thema allen den Social Media Post von Fabian Schuetze von Golden Ticket ans Herzen legen – er trifft in wenigen Worten den Nagel auf den Kopf. 

Daher mein dringender Appell an die Kulturverantwortlichen auf Bundes- und Landesebene, sich und die in der Krise vorgenommenen Maßnahmen ehrlich und konstruktiv zu reflektieren, denn dass Musik systemrelevant ist, sollte in den vergangenen zweieinhalb Jahren allen bewusst geworden sein.

Ähnliche Themen

Reeperbahn Festival 2022: Die Livebranche steht vor einer massiven Marktbereinigung

Die fetten Jahre sind vorbei

Reeperbahn Festival 2022: Die Livebranche steht vor einer massiven Marktbereinigung

veröffentlicht am 23.09.2022   58

Newsletter

Abonniere den Backstage PRO-Newsletter und bleibe zu diesem und anderen Themen auf dem Laufenden!