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Eine schwierige Frage

Wie verändert das Musikstreaming die Wertschätzung von Musik?

Spezial/Schwerpunkt von Florian Endres
veröffentlicht am 17.03.2023

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Wie verändert das Musikstreaming die Wertschätzung von Musik?

© Sofia Alejandra

Musikstreaming hat unsere Art des Musikkonsums nachhaltig verändert. Zweifelsohne sind noch viele Fragen hinsichtlich der fairen Entlohnung von Musikerinnen und Musikern offen – doch was machen die neuen Möglichkeiten des Musikkonsums eigentlich mit unserem Musikgeschmack und unserem Verhältnis zur Musik?

Dass der Musikkonsum in den großen Musikmärkten, darunter USA, Deutschland und auch UK, inzwischen in erster Linie digital – und vor allem via Musikstreaming – stattfindet, ist nach Jahren des Wachstums zum Allgemeinplatz geworden:

Streamingdienste wie Spotify und Apple Music, aber auch Portale wie das jüngst an Epic Games verkaufte Bandcamp oder die Google-Tochter YouTube, verzeichnen in ihren Quartals- und Jahresberichten eine stetig steigende Anzahl monatlich aktiver Nutzerinnen und Nutzer, während Künstler/innen und Bands pro Tag über 100.000 Songs hochladen.

Streaming – voll im Trend

Durch die Umwälzungen im Musikbusiness in den vergangenen Jahren steigt also nicht nur die Zahl der zur Verfügung stehenden Musikstücke; auch die Zahl der Hörerinnen und Hörer, die durch neue Technologien auf diese zugreifen können, wächst konstant.

Dieser Trend ist dabei nicht nur im Bereich der populären Musik zu betrachten; auch obskure Künstler/innen und Alben – neu wie alt – erhalten via Bandcamp, aber auch über Dienste wie YouTube oder SoundCloud, die stärker auf nutzergenerierte Inhalte setzen, eine Plattform.

Dass diese andauernde, radikale Umwälzung der Musiklandschaft auch Veränderungen in unseren Hörgewohnheiten und in unserem Verhältnis zur gehörten Musik zeitigt, ist wenig verwunderlich – und ebensowenig die zahlreichen Reaktionen, die diese Entwicklungen im Musik-Konsumverhalten hervorrufen.

Der Schritt zurück

So berichtet beispielsweise der Guardian von einer zunehmenden Anzahl Musikfans, die ihr Premium-Streaming-Abonnement gekündigt haben, um – nach eigener Aussage – ihre "Liebe zur Musik" wiederzugewinnen. Die Personen, die der Guardian dazu interviewt hat, berichten von einer Rückkehr zu tradierten Formaten wie CDs oder Vinyl, aber auch zu MP3-Downloads und -Playern – mit einem simplen Ziel:

Sie wollen das Überangebot auf Spotify und Co. eindämmen und sich selbst dazu zwingen, Musik wieder konzentrierter und bewusster zu hören, statt einen endlosen Strom von algorithmisch empfohlener Musik einfach "laufen zu lassen". Der Musiker Jared Samuel Elioseff fasst zusammen:

"Streaming macht das Hörerlebnis viel passiver. Das Wort 'Streaming' in seiner aktuellen Bedeutung hat sich erst allmählich in unsren Wortschatz eingefügt. Bevor es das Streaming von Musik gab, strömte lediglich Wasser – jetzt dominiert die Vorstellung, dass man einfach einen Wasserhahn aufdrehen kann, und schon kommt Musik heraus. Das ist etwas, das jeder als selbstverständlich hinnimmt."

Die Jugend von heute

Indem die interviewten Personen also die quasi-unbegrenzte Musikauswahl von Spotify, Apple Music und Co. bewusst limitieren, wollen sie der Musik einen Wert zurückgeben, der für sie durch Streaming abhanden gekommen ist.

Gerade in Bezug auf die jüngere Generation ("Generation TikTok" bzw. Generation Z) wird diese Vermutung dabei oft laut: dass sie im Zuge ihres Mediennutzungsverhaltens, durch die kostenlose bzw. zumindest äußerst günstige Allgegenwart der Musik oder auch durch deren angeblich verminderte Qualität die Wertschätzung für diese verloren haben. Doch stellt sich hier die Frage: Ist Musik tatsächlich weniger wert, nur weil sie weniger kostet? 

Musik im TikTok-Zeitalter

Denn – so beschreibt dies u.a. die Guardian-Autorin Jude Rogers in einem Artikel – trotz ihrer veränderten Hörgewohnheiten fehle der Generation ihres Sohnes (9 Jahre) keinesfalls die Liebe zur Musik; es ist lediglich sein Umgang, die Art und Weise, wie dieser Musik entdeckt und sein Umgang mit dieser, der sich verändert hat:

Der Sohn habe seine Playlist, die er immer wieder höre, und in der er seine Lieblingssongs sammle – diese jedoch genauso schnell auch wieder entferne, sobald sie ihm nicht mehr gefallen.

Im Vergleich zu ihrer Jugend, in der sie ihre Lieblingsmusik nur eher zufällig im Radio hören konnte und wesentlich länger darauf warten musste, dass "ihre" Songs gespielt werden, in der Alben noch tatsächlich einen signifikanten Anteil des Taschengeldes verschlangen, seien die Hürden für das Musikhören zwar gefallen, die Liebe zur Musik bestehe jedoch noch immer.

Neue Welten

Wenngleich die hier dargelegten Positionen dieser Debatte hier lediglich anekdotischen Gehalt haben – wohl auch deshalb, weil die zugrunde liegende Diskussion zu den Folgen der Streaming-"Revolution" nicht nur komplex, sondern auch schlichtweg stark emotional besetzt und daher schwer zu quantifizieren ist –, so zeigen sie doch deutlich die Fluchtlinien der Auseinandersetzung.

Der möglicherweise positive Einfluss des Musikstreamings auf das Konsumverhalten jüngerer Menschen steht die damit einhergehende Abweichung von tradiertem Hörverhalten gegenüber; die musikalische Vielfalt, die die Generation Z mit offenen Armen begrüßt, wird als Beliebigkeit abgetan.

Dabei gibt es Studien, die gerade diesen positiven, diversifizierenden Einfluss des Musikstreamings auf individuelle Hörgewohnheiten bestätigen können und zeigen, dass sich der Musikgeschmack der befragten Probandinnen und Probanden nach deren Anmeldung bei einem Streaming-Dienst nachhaltig verbreiterte.

Nicht nur die Zahl der gehörten, verschiedenen Künstlerinnen und Künstler stiegen an, auch die Zahl der gehörten Genres und der Musikkonsum insgesamt schoßen in die Höhe. Dabei wurden in erster Linie neue Songs gehört, keine Alben – und viele dieser Songs auch nur einmal. Aber erst durch diesen Prozess des Entdeckens, des Immer-weiter-Hörens, entdeckten die Proband/innen dann auch neue Songs, die sie mochten und die sie daher auch wiederholt anhörten. 

Extrem fragmentiert

Was kritisch formuliert als Beispiel zunehmender Willkür durch das Musikstreaming gesehen werden kann, zeigt – positiv betrachtet – die Möglichkeit des Audio-Streamings, Scheuklappen niederzureißen und Geschmäcker zu verbreitern, Leute Musik entdecken und hören zu lassen, die diese sonst vielleicht nie kennengelernt hätten.

Das bedeutet natürlich gleichermaßen, dass viele Künstler/innen und Bands, womöglich sogar Musikstile, durch das Internet im weitesten Sinne und Musikstreaming im Speziellen erst als solche die Möglichkeit haben, stattzufinden: Der Musikgeschmack der jüngeren Generation ist so divers wie nie, und vereinigt – ganz ohne Genre-Schranken – Altes und Neues, 80er-Pop-Hits und aktuellen K-Pop, Hip-Hop und Country oder sogar Klassik.  

Der Algorithmus weiß es?

Die Fragmentierung des Musikmarktes – oder: das erschlagend wirkende (Über-)Angebot von Musik – bedingt heute mehr denn je die Notwendigkeit von Instanzen, die eine Ordnung in das Chaos bringen und den Musikfans empfehlen, was diesen vielleicht auch gefallen könnte.

Im Hinblick auf Streaming-Dienste wird diese Rolle in erster Linie wahrgenommen durch Playlists, die wie Mixtapes oder Compilations tatsächlich das Potential haben, Musikfans neue Horizonte zu eröffnen sowie und Algorithmen, denen der Nachteil innewohnt, dass sie sich stets an dem bereits gehörten orientieren und damit Gefahr laufen, stets bloß das ewig gleiche zu empfehlen

Dabei ist genau dieses Argument, das gerade die Generation Z gegen Spotify und Konsorten hervorbringt: Während Plattformen wie TikTok in der Lage sei, Abseitiges und Unbekanntes zu empfehlen und so Trends zu starten, die sich auch die Menschen hinter den Songs nicht erklären können, verharre Spotify zu sehr auf gewohntem und entspreche nicht der Neugier vieler aktueller Musikfans. 

Die neue Offenheit

Nichtsdestotrotz stimmt es natürlich, dass moderne Musikplattformen durch ihre Algorithmen einen Einfluss auf die Beliebtheit von Musik, auf Songwriting und Ästhetik haben – in dem Maße, wie dies einstmals Radiosender, Musikfernsehen und Charts hatten.

Doch findet diese Beeinflussung nicht mehr in Form des "einen", gleichgeschalteten Populärmusikgeschmacks statt, sondern eben in fragmentierter Form: Statt eines Massengeschmacks führen digitale Kanäle zu vielen verschiedenen Strömungen von Musik, die durch deren einfache Zugreifbarkeit nebeneinander existieren können und sich – in Ermangelung von Verbreitungskanälen – nicht mehr gegenseitig ausschließen. 

Diese neue Offenheit im Hinblick auf Stile und Strömungen lässt sich dabei auch auf die Art und Weise der Musikrezeption anwenden: Obwohl digitale Formate gerade unter Jugendlichen boomen, gibt es auch Generation Z-ler, die lieber auf physische Formate setzen und mitverantwortlich für das Wiederaufleben von Vinyl sind; und für jede/n Teenager/in, die gerne Spotify-Playlists hört, gibt es eine Person, die sich die Alben ihrer Lieblingskünstler/innen und -bands über Bandcamp kauft.

Kein leichtes Feindbild

Das Problem der Diskussion um einen vermeintlichen Werteverfall der Musik gerade in jüngeren Generationen ist es, dass es die "eine" Musik, den einen Welthit, aber auch die eine Art und Weise, Musik zu konsumieren, nicht mehr gibt.

Es gilt, zu akzepteren, dass die digitale Umwälzung bekannter Formen für eine Verbreiterung der Möglichkeiten und für eine Individualisierung des Musikgeschmacks der Jüngeren gesorgt hat, nicht aber für ein Nachlassen von deren Liebe zur Musik. 

Gleichzeitig ist es wichtig, parallel zu dieser Akzeptanz auch eine kritische Distanz zu bewahren und – nicht nur bei Jüngeren, sondern letztlich bei allen Streaming-Nutzer/innen – ein Bewusstsein für die strukturellen Probleme der neuen Technologien zu schaffen und gemeinsam für eine Verbesserung der Umstände einzutreten.

Denn schlussendlich hat der wahrgenommene Werteverfall hat nicht in erster Linie damit zu tun, dass junge Menschen als Reaktion auf die veränderten Möglichkeiten auch neue Arten und Weisen ausgebildet haben, Musik zu hören.

Das Problem sind vielmehr die Abrechnungsmodelle, die unterdurchschnittlichen Ausschüttungen der Streaming-Plattformen und die oftmals unfairen Verträge der großen Labels mit ihren Künstler/innen, aber auch im allgemeinen fragwürdige Geschäftskonzepte, die dafür sorgen, dass Musiker/innen unfair vergütet werden und unter einer Entwicklung leiden, von der sie eigentlich in hohem Maße profitieren könnten.  

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